Handout 2.2: Hans Jonas (1979, Neuausgabe 2020): Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation. Suhrkamp, Berlin.

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Hans Jonas versucht eine Ethik zu formulieren, die die Menschen befähigt, der grenzenlosen Naturzerstörung Einhalt zu gebieten. Sein Konzept der Verantwortung lässt sich auch auf das Problem der unüberschaubaren Lieferketten beziehen, und ebenso auf die Frage des Klimaschutzes.

Die industrielle Revolution und der wissenschaftlichtechnische Fortschritt haben den Menschen ermöglicht, die Natur nicht nur zu beherrschen, sondern auch zu zerstören. Die Menschen überblicken nicht mehr die unumkehrbaren Folgen ihres Handelns, weder im globalen Maßstab noch für die Zukunft. Als Einzelsubjekt kann ein Mensch an dieser Situation nichts ändern. (vgl. S. 9. f.)

Die Menschen benötigen eine neue Ethik, die am Handeln der Menschen hier und heute ansetzt, da Fernprognosen in die Zukunft unmöglich sind.

Die Dynamik der fortschreitenden Naturzerstörung wird durch die kapitalistische Marktwirtschaft erzeugt und durch das Wachstum der Weltbevölkerung weiter verschärft. Die unabwendbare Perspektive dieser Entwicklung ist die Apokalypse (vgl. S. 247). Um sie abzuwenden, müssen die Menschen darauf verzichten, die Natur so auszubeuten, wie es technisch möglich wäre. Sie werden „Entbehrungen“ akzeptieren müssen, die schmerzhaft sein werden, also empfindliche Einbußen des Lebensstandards. Jonas hält die Demokratie für unfähig, diesen Verzicht durchzusetzen, da sie auf Gegenwartsprobleme fixiert ist, die stets die Zukunftsfragen verdrängen (vgl. S. 261 f.). Jonas fasst die ethische Verpflichtung für die Menschen, die heute leben, in einen neuen kategorischen Imperativ: „‘Handle so, dass die Wirkungen Deiner Handlungen verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Handelns auf Erden’; oder negativ ausgedrückt: ‘Gefährde nicht die Bedingungen für den indefiniten Fortbestand der Menschheit auf Erden. ’“ (S. 38)

Jonas ist überzeugt, dass diese Zukunftsverantwortung von den Menschen, die heute leben, eine anhaltende Disziplin und Bereitschaft zum Wohlstandsverzicht verlangt, die nur mit Zwangsmitteln zu erreichen ist (vgl. S. 249). Dazu bedarf es einer Elite, die eine „wohlwollende Tyrannis“ ausübt, die sich am Modell der kommunistischen Einparteienherrschaft orientiert. Im „kapitalistisch-liberal-demokratischen Komplex“ ließen sich die langandauernden Opfer nicht durchsetzen (vgl. S. 256).

Nach dem Fall der Berliner Mauer und dem Ende der Sowjetunion (1989/1991) rückte Jonas (1993: 21) in einem Spiegel-Gespräch von der Idee einer „wohlwollenden Tyrannis“ ab:

„SPIEGEL: Wir können heute in den ehemals kommunistischen Ländern besichtigen, wie dort die Natur vom Menschen verwüstet wurde. Dies ist ohne Beispiel.

JONAS: Ja, das ist eine der großen Enttäuschungen. Ich gestehe, dass ich mich da völlig getäuscht habe. Ich habe gedacht, die Kommunisten hätten die größte Möglichkeit, bescheiden mit der Natur umzugehen, weil sie die Befriedigung der Bedürfnisse ja regieren können. Sie konnten sagen, so und soviel wird bewilligt und nicht mehr.“ Jonas zeigt sich ratlos, wie die Menschheit das von ihm befürchtete apokalyptische Szenario der irreversiblen Zerstörung der Natur abwenden könnte. Es sieht eine schwache Hoffnung, dass manche Menschen den Anfang machen und für andere zum Vorbild werden. Die Philosophie könne Impulse geben für die Erziehung der Menschheit im Sinne der Verantwortungsethik.

Manfred G. Schmidt (2019): Demokratietheorien, 6. Aufl. Springer VS, Wiesbaden.

Manfred Schmidt (2019: 477 ff.) gibt Jonas in einem entscheidenden Punkt seiner Argumentation recht, der Gegenwartsfixierung der Demokratie. Er zieht freilich nicht die gleiche Konsequenz wie Jonas, die politische Gewalt an ein diktatorisches Regime zu übertragen.

Wahlperioden von vier oder fünf Jahren schaffen einen „kurzen Zeittakt“, der keine politische Strategie mit langem Atem erlaube. Dieser „Prozessdefekt“ trägt dazu bei, dass Demokratien auf die Gegenwart fixiert sind und dazu neigen, „mit Zukunftsinteressen sorglos umzugehen“. Zur Hinterlassenschaft der Demokratien gehören schwere Bürden für zukünftige Generationen, unter ihnen Staatsverschuldung, Umweltzerstörung und Jahrtausende nachwirkende radioaktiv verseuchte Abfälle von Atomkraftwerken.

Robert Habeck (2020)

In seinem Nachwort zur Neuausgabe des „Prinzips Verantwortung“ von Hans Jonas hebt Habeck (2020: 408 f.) die Aktualität von Jonas‘ Einsichten hervor, mit denen er philosophisch Neuland betrat: „Dass Handlungen ihre Zeit überdauern, dass Spätfolgen erst nach Jahrzehnten oder Jahrhunderten wirksam werden, dass sie Grenzen von Staaten und Kontinenten überschreiten (…) Technik und technische Entwicklung (sind) nichts (…), was zu einer Gesellschaft sozusagen optional hinzukommt, sondern dass sie das sind, was die Gesellschaft in ihrem Kern ausmacht.“

Habeck lehnt Jonas‘ Bereitschaft, ein diktatorisches Regime zu akzeptieren, um die Gesellschaft von der zerstörerischen Eigendynamik der technischen Entwicklung in einer kapitalistischen Wirtschaft zu befreien, entschieden ab. Er zeigt, dass Jonas‘ Vorstellung, dass die Natur wie ein eigenständiges Subjekt zu behandeln sei, und die Menschen ohne Rücksicht auf ihre Eigeninteressen ethisch verpflichtet seien, das Fortbestehen der Natur zu sichern, die Tür zu einer autoritären Lösung öffne (vgl. S. 414 f.).

Habeck setzt dem ein anderes Konzept des Mensch-Natur-Verhältnisses entgegen: Es liege im ureigenen Interesse jedes Einzelnen und der Menschheit insgesamt, die Natur so zu behandeln, dass für alle Menschen heute und in Zukunft ein Leben in Freiheit und Würde möglich wird. Dazu gehöre auch, wie wir heute wissen, die zumindest die gravierendsten Folgen des Klimawandels abzuwenden, die bereits bis zum Ende dieses Jahrhunderts drohen. Wie wir unseren gegenwärtigen und zukünftigen Interessen am besten dienen, muss im demokratischen Diskurs stets neu ausgehandelt werden. Kein Alleinherrscher ist so allwissend, diese Fragen im Sinne einer Gesellschaft entscheiden zu können (S. 415 ff.).

Hans Jonas‘ Verdienst ist es, Verantwortung als ethische Pflicht zu verstehen, den lebenden und vor allem den nachfolgenden Generationen ein würdiges Leben zu ermöglichen. Dieser Gedanke ist seit den siebziger Jahren aktuell, und bestimmt auch unsere Diskussionen um die Ausgestaltung der globalen Lieferketten, den Umweltschutz oder die Abwendung der Folgen des Klimawandels.