Sequenz 1: Das Fischerspiel (1): Das Szenario der Überfischung

Living Democracy » Textbooks » Sequenz 1: Das Fischerspiel (1): Das Szenario der Überfischung

Die folgende Übersicht unterstützt die Lehrperson bei der Planung und Durchführung der Sequenz.

Kompetenztraining benennt die Kompetenzen, welche die Lernenden in dieser Sequenz trainieren (Analyse-, Urteils-, Handlungs- und Methodenkompetenzen).

Das Erkenntnisziel beschreibt die inhaltlich-kognitive Dimension des Lernertrags.

Aufgaben und Methoden dienen der Gestaltung des Lernprozesses.

Medien und Hilfsmittel bieten eine Checkliste für die technisch-organisatorische Vorbereitung.

Die Richtwerte zum Zeitbudget unterstützen das Zeitmanagement.

Kompetenztraining Eine komplexe Situation analysieren, sich unter Zeitdruck entscheiden.
Erkenntnisziel Zielkonflikt: Maximale Erträge – Ressourcenerhalt. (Die Spieler müssen einen Zielkonflikt lösen: einerseits müssen sie möglichst hohe Fangerträge anstreben, andererseits müssen sie vermeiden, dadurch ihre Fanggründe zu zerstören.)
Aufgabe Die Lernenden müssen das Problem (den Zielkonflikt), mit dem sie konfrontiert sind, erkennen, verstehen und es zu lösen versuchen.
Ressourcen / Material

Handout 4.1 (Protokollbögen)

Materialien für die Lehrperson 4.1–4.3 zur Leitung des Fischerspiels

Projektor, Tafel und/oder Flipchart

Taschenrechner oder Computer

Alternativ: Excel-basierte Version mit Computer und Beamer20

Methode Handlungsorientierung, Planspiel
Zeitbudget 1. Einführung in das Fischerspiel. (10 Min)
2. Fischerspiel. (35 Min)

Information

Falls möglich, sollten die erste und zweite Sequenz zu einer Doppelstunde zusammengefasst werden, doch lässt sich das Spiel auch in zwei Einzelstunden durchführen.

In den ersten Spielrunden bleibt es den Lernenden überlassen, miteinander zu kommunizieren oder nicht. Die Lehrperson besteht jedoch auf der Einhaltung des Zeitplans, so dass eingehendere Verhandlungen und Absprachen noch nicht möglich sind.

Die Spielbeschreibung und die Materialen gehen von vier Gruppen mit maximal 6 Schülerinnen und Schülern pro Gruppe aus. In größeren Klassen sollte die Lehrperson die Anzahl der Gruppen vergrößern und die erlaubten Fangquoten pro Gruppe entsprechend reduzieren. Vgl. dazu das Material für Lehrpersonen 4.2.

Falls Computer und Beamer zur Verfügung stehen, kann auch die elektronische Version des Fischerspiels zur Berechnung der laufenden Ergebnisse, Dokumentation und Veranschaulichung verwendet werden. Zum Download der Excel-Datei siehe http://www.teleunterricht.de/fischerspiel.htm.

 

Verlauf der Sequenz

1. Einführung in das Fischerspiel

Die Lehrperson erklärt den Lernenden, dass sie ein Spiel durchführen werden, das einen wichtigen Bereich der Wirklichkeit nachbildet (simuliert):

„Stellt euch einen See vor. An den Ufern gib es vier Fischerdörfer und ihr lebt als Fischer in einer dieser vier Dorfgemeinschaften. Es gibt viel Fisch im See, von dem ihr leben könnt. Die Fischerei ist der einzige Wirtschaftszweig in dieser Region, so dass ihr über keine andere Einkommensquelle verfügt.

Ihr geht die ganze Saison über auf Fischfang. In den Wintermonaten gibt es eine Schonzeit, in der sich die Fischbestände regenerieren können. In dieser Zeit lebt ihr von euren Vorräten an Trockenfisch, flickt eure Netze und streicht eure Boote, um in der nächsten Saison wieder zum Fischfang herausfahren zu können.”

Takingpart_EN.pdf

Das Bild zeigt den See und einige Fische darin sowie die vier Fischerdörfer, die je über ein Boot verfügen. Die Lehrperson kann einen Beamer verwenden oder an der Tafel skizzieren.

Die Lernenden bilden vier Gruppen (“Bootsmannschaften”) mit je 4–6 Spieler/innen, die sich um je einen Gruppentisch herum versammeln. Die Gruppentische sollten möglichst weit auseinander liegen, damit die Gespräche und Diskussionen der einzelnen Gruppen von den andern nicht mitgehört werden können. Jede Gruppe gibt ihrem Boot einen fantasievollen Namen. Die Lehrperson verteilt die Protokollbögen (Handout 4.1) an die Gruppen.

Das Spiel findet in mehreren Runden statt, wobei jede Runde für eine Fangsaison sowie die anschließende Schonzeit steht. In jeder Runde entscheiden die Gruppen, ob sie die maximal zulässige Fangquote von 15% ausschöpfen oder weniger Fisch fangen wollen. Die entsprechende Zahl tragen sie auf ihrem Spielbogen ein (Handout 4.1) und geben sie bei der Spielleitung, d.h. bei der Lehrperson ab. Zu Beginn des Spiels befinden sich 140 t Fisch im See, von denen maximal 60% (= 84 t) gefangen werden dürfen. Jede Gruppe kann also in der ersten Runde maximal 21 t Fisch fangen. (Bei mehr als vier Gruppen muss die Fangquote entsprechend gesenkt werden, so dass die Ge-samtfangquote 60% nicht übersteigt.)

Der Spielleiter rechnet die Fangquoten aller Fischerdörfer in Tonnen um und informiert die Gruppen über die Fangergebnisse. Anschließend erfahren die Gruppen, wie hoch die Fischbestände nach der Regenerationsphase sind und starten in die zweite Runde.

Die Lehrperson verwendet nur eine Formulierung, um das Ziel des Spiels zu bestimmen: „Fangt so viel Fisch, wie ihr könnt.“ Diese Anweisung ist mehrdeutig, doch sollte sich die Lehrperson zu keinen weiteren Erläuterungen bewegen lassen. Vielmehr soll es Sache der Lernenden sein, wie sie das Ziel interpretieren – im Sinne der Gewinnmaximierung ihres Fischerdorfes oder im Sinne der nachhalti-gen, ge¬meinsamen Fischbewirtschaftung durch die vier Dörfer (vgl. das Erkenntnisziel der Sequenz). In der Reflexionsphase (Sequenzen 3 und 4) werden die Lernenden auf das Dilemma zwischen Nutzenmaximierung und Erhalt ihrer Ressource zurückkommen.

Die Lehrperson kommentiert nicht, was geschehen wird, wenn alle vier Gruppen ihre maximale Fangquote ausschöpfen und bereits in der ersten Runde 84 t Fisch fangen, d.h. den Bestand um mehr als die Hälfte dezimieren. Denn mit dieser Ungewissheit beginnt bereits das Spiel: den Lernenden wird bewusst, wie wenig sie wissen, wenn sie ihre Entscheidung treffen. Sie wissen nicht, welchen Pfad ihre Konkurrenten einschlagen werden, und sie wissen auch nicht, wie hoch die Regeneration der Fischbestände ausfallen wird. Die Lehrperson stellt ihnen die Regenerations- bzw. Reproduktionstabelle (siehe Material für die Lehrpersonen 4.1) nicht zur Verfügung, doch können die Lernenden versuchen, die Regenerationsquote aufgrund der Erfahrungswerte der ersten Runde selbst zu errechnen.

2. Das Fischerspiel

Die erste Runde beginnt. Die Lehrperson verteilt die Protokollbögen (Handout 4.1) und gibt den Gruppen 5 Minuten Zeit, um über ihre Fangquote zu diskutieren und eine Entscheidung zu treffen. Die Lehrperson sammelt die Bögen ein, trägt die Fangquoten in die Übersicht (Material für Lehrpersonen 4.2) oder aber in die Maske der digitalen Version ein, berechnet die Fangmengen der einzelnen Gruppen in Tonnen sowie die Gesamtfangmenge in Runde 1. Sie entnimmt aus der Reproduktionstabelle (Material für Lehrpersonen 4.1) den Zuwachs des Fischbestandes bis zum Beginn der folgenden Saison (2. Spielrunde), und trägt diesen Wert ebenfalls in die Spielübersicht ein. Die digitale Version erstellt die Ergebnisse automatisch und bereit sie in Schaubildern auf. Diese Ergebnisse präsentiert sie den Spielgruppen und veranschaulicht sie ggf. in einem analogen Schaubild (vgl. Material für Lehrpersonen 4.3).

Die Lernenden erhalten ihre Spielbögen zurück und die zweite Runde beginnt. Die Gruppen können ihre gesamte Fangmenge errechnen, da über diese der Gewinner im wirtschaftlichen Wettbewerb ermittelt wird.

Die Lehrperson kündigt an, dass die Beratungszeit um eine Minute verkürzt wird (nur mehr 4 Min.). Sie verschärft damit das Problem für die Gruppen, Entscheidungen zu treffen, deren Folgen sie nicht genau abschätzen können. Erfahrungsgemäß tendieren die meisten Schülergruppen dazu, zu Beginn die Grenzen des Spiels auszureizen. Die Fischpopulation (140t) wird dann bereits in der ersten Runde mehr als halbiert; in der Regenerationsphase erholt sie sich etwas auf 94t. Falls die Lernenden an ihrer maximalen Fangquote festhalten und diesen Raubbau fortsetzen, ist der Kollaps der Fischbestände nach drei oder vier Runden wahrscheinlich. Die Grafik veranschaulicht, wie die Fischer ihre Lebensgrundlage zerstören. Für manche Schüler mag diese Darstellung zu abstrakt sein, um sich vorstellen zu können, dass die Zerstörung der Fanggründe Hungersnot und Armut bedeutet. Die Lehrperson entscheidet situativ, ob sie ein kurzes Klassengespräch einschiebt, damit sich die Gruppen der Folgen ihrer Fangpolitik bewusstwerden, ehe sie in eine nächste Runde eintreten.

Die Lernenden erfassen die Gefahr für die Fischpopulation sehr rasch. Sie diskutieren in ihren Gruppen, ob sie ihre Fangquoten reduzieren sollten, um die Katastrophe abzuwenden. Sie wissen jedoch nicht, ob die konkurrierenden Gruppen ebenfalls umschwenken oder aber die Zurückhaltung einer Gruppe ausnutzen würden, um sich weiterhin maximale Fangerträge zu sichern. Von diesem Punkt an verlaufen keine zwei Spiele gleich. Entscheidend sind die Charaktere und Persönlichkeiten der handelnden Personen, aber auch das Alter, das Reflexionsvermögen und die Zusammensetzung der Gruppen nach Geschlecht spielen eine Rolle.

Die zweite und dritte Runde wird in der gleichen Weise gespielt wie die erste. Früher oder später müssen die Gruppen von Konkurrenz und Konflikt auf Kommunikation und Kooperation umschalten, wenn sie die Katastrophe abwenden wollen.

In dieser wichtigen Phase hat die Spielleitung, also die Lehrperson, einen gewissen Spielraum:

  • Sie kann jede Kommunikation zwischen den Gruppen während der ersten drei bis vier Runden untersagen oder aber abwarten, bis die Lernenden die Initiative ergreifen, und sie dann gewähren lassen.
  • Sie kann je nach Verlauf des Spiels selbst eine Verhandlungsrunde anregen, falls keine Initiative von den Gruppen kommt.
  • Für eine Verhandlungsrunde muss sie die straffe Taktung der Spielrunden anhalten, indem sie z.B. eine Pause von 5 oder maximal 10 Minuten einlegt. Auf jeden Fall soll der Entscheidungs- und Handlungsdruck aufrechterhalten werden.
  • Die Lehrperson kann den Gruppen Hilfestellung geben, wie sie sich für die Verhandlung organisieren können (Entsendung von Delegierten oder aber kollektive Verhandlung in einer „Volksversammlung“). Sie kann es aber auch den Lernenden überlassen, diese Möglichkeiten zu entdecken.
  • Sie kann schließlich ein „Wunder“ geschehen lassen und die Regeneration der Fischpopulation verstärken, um die Folgen der ersten Runden etwas abzumildern und den Gruppen etwas mehr Zeit zu geben. Diese Maßnahme ist in der analogen Version problemlos machbar, und mit etwas Aufwand auch in der digitalen Fassung möglich.

Die Lehrperson muss abwägen, wie viel Problemdruck ihre Schülerinnen und Schüler ertragen. Ihre Hilfestellungen sollten aber so knapp bemessen sein, dass es weiterhin von den Anstrengungen der Lernenden abhängt, ob sie bei ihrer Problemlösung Erfolg haben oder nicht. Keinesfalls sollte die Lehrperson mit dem Ziel intervenieren, den Lernenden die Erfahrung des Scheiterns zu ersparen.

Die Verhandlungen entscheiden über den weiteren Verlauf des Spiels. In manchen Fällen gelingt es den Lernenden, eine Wende herbeizuführen und die Fischbestände zu stabilisieren, recht oft scheitern sie aber auch. Die Verhandlungen mit den anderen Gruppen (politics) eröffnen zwar Chancen zur Problemlösung, machen aber auch die Komplexität des zu lösenden Problems bewusst. Dieses umfasst in der Tat alle Dimensionen des Politischen: Es geht nicht nur um die Lösung eines drängenden ökologischen Problems (policy); vielmehr muss auch geklärt werden, in welcher Form die Verhandlungen verlaufen sollen, wer letztlich über die künftigen Fangquoten entscheidet und ob ein Instrumentarium bzw. Regulativ geschaffen werden soll, um die Einhaltung der Vereinbarungen zu überwachen und ggf. durch Sanktionen zu erzwingen (polity). Kurz: die Lernenden müssen sich zwischen den Organisationsformen „Staat“, „Vertrag“ oder „Markt“ entscheiden.

Die Lehrperson beobachtet, inwieweit es den Gruppen gelingt, die Zusammenhänge zu erkennen und zu lösen. Die Konfrontation mit einem derart komplexen – und realitätsnahen – Problem fördert die Kompetenzentwicklung der Lernenden. Deren Erfolge wie auch ihr Scheitern liefern der Lehrperson das „Material“ für ihre Diagnose der Schülerkompetenzen und für die Planung der anschließenden Auswertung des Spiels bzw. der nachfolgenden Unterrichtssequenzen.

 

1. Die Excel-basierte Version ist zugänglich unter http://www.lehrware.de/fischerspiel.htm (Abruf am 05.07.2021).