Material für Lehrpersonen 4.5: „Störungen haben Vorrang.“

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„Störungen haben de facto Vorrang, ob Direktiven gegeben wurden oder nicht. Störungen fragen nicht nach Erlaubnis, sie sind da: als Schmerz, als Freude, als Angst, als Zerstreutheit; die Frage ist nur, wie man sie bewältigt. Antipathien und Verstörtheiten können den einzelnen versteinern und die Gruppe unterminieren; unausgesprochen und unterdrückt bestimmen sie die Vorgänge in Schulklassen und in Vorständen. (…) Verhandlungen und Unterricht kommen auf falsche Bahnen oder drehen sich im Kreis. (…) Das Postulat, dass Störungen und leidenschaftliche Gefühle den Vorrang haben, bedeutet, dass wir die Wirklichkeit des Menschen anerkennen; und diese enthält die Tatsache, dass unsere lebendigen, gefühlsbewegten Körper und Seelen Träger unserer Gedanken und Handlungen sind. Wenn diese Träger wanken, sind unsere Handlungen und Gedanken so unsicher wie ihre Grundlagen.“ (Kohn 2000:122; Hervorh. im Original)

Im Falle des Fischerspiels können beispielsweise Verhaltensweisen wie die folgenden die Arbeit an den Problemen erschweren oder blockieren:

  • die reichste Gruppe ruft sich zum Sieger aus und verhöhnt die „Loser“ als „Ökos“ oder „Weicheier“;
  • die Verlierer, die sich aus ökologischer Verantwortung zurückhielten, beschimpfen die reichste Gruppe als „Kapitalisten“ oder „Egoisten“;
  • auch Spannungen innerhalb einer Gruppe können aufbrechen, falls sich einzelne Mitglieder durch andere dominiert fühlen;
  • Schüler tendieren mitunter zu brachialen, Schülerinnen zu umsichtigeren Spielstrategien, die zwischen oder innerhalb von Gruppen zu Spannungen und Vorwürfen führen können;
  • Gruppen machen einander moralische Vorwürfe, falls sie Abmachungen während des Spiels gebrochen haben.

Die Lehrperson muss entscheiden, ob sie Schüleräußerungen und Spannungen als Störungen einstuft. In der Schule kann die Lehrperson den Lernenden die Möglichkeit geben, diese Gefühle in einem geschützten Rahmen zu artikulieren und sich auszusprechen.

In einer solchen Situation kann eine Runde (Stuhlkreis) hilfreich sein, in der sich alle Schülerinnen und Schüler zur Frage äußern können: „Wie fühltet ihr euch in Euren Rollen?“ oder auch einfach: „Wie geht es euch jetzt?“ Alle Schülerinnen und Schüler kommen der Reihe nach zu Wort. Die Lehrperson moderiert die Aussprache, ohne die Schülerbeiträge zu kommentieren. Sie unterbindet auch entsprechende Interventionen und erklärt, falls notwendig, die Funktion einer solchen Runde. Niemand muss etwas sagen, doch wer länger sprechen will, soll es tun.

Anschließend findet eine Aussprache statt, insbesondere dann, wenn einige Schülerinnen und Schüler Verbitterung oder Frustration geäußert haben, z.B. weil sie zu den Verlierern im Fischerspiel gehörten oder weil ihr ökologisch verantwortliches Engagement nicht gewürdigt wurde. Über Gefühle lässt sich nicht diskutieren, doch verlieren sie viel von ihrem Störungspotenzial, wenn sie artikuliert werden können und die Lernenden sie sich gegenseitig zubilligen. Im Unterricht kann und soll man sie dann „stehen lassen“.

Die Aussprache muss keine Einigkeit hervorbringen und sollte sich nicht zu lange hinziehen. Die Lernenden sollten nicht das Gefühl bekommen, es würden „Probleme gewälzt“, vielmehr sollte sich die Klasse nach einer angemessenen Zeit wieder der Sache zuwenden. Die Gefühlsäußerungen und Vorwürfe lassen sich dann auf ihren Erfahrungsbezug – den Problemkern – befragen. Die oben genannten Beispiele verweisen auf:

  • die Struktur der Interdependenz;
  • die Wirkung von Anreizen;
  • den Kooperationszwang;
  • Dilemmata im Umgang mit den Nachhaltigkeitszielen;
  • Entscheidungszwang unter Bedingungen unvollständiger Information; verantwortliches Entscheiden ist kaum möglich, ohne die Folgen abschätzen zu können;
  • das Fehlen von Regeln und Institutionen sowie, damit zusammenhängend,
  • das Kooperationsdilemma.

Teilnehmer mit „dauernden Störungen“ bedürfen professioneller Hilfe, die niemand in der Schule geben kann (vgl. Kohn 2000:122).