2 – Material 2: Wie kann ich meine Schülerinnen und Schüler in ihrer politischen Urteilsbildung unterstützen?

Living Democracy » Textbooks » 2 – Material 2: Wie kann ich meine Schülerinnen und Schüler in ihrer politischen Urteilsbildung unterstützen?

Die leitende Zielsetzung von EDC/HRE besteht darin, die Lernenden zur Teilhabe am öffentlichen und politischen Leben zu befähigen. Eine derartige Partizipation setzt voraus, dass die jungen Bürgerinnen und Bürger wissen, was sie erreichen wollen, denn die Ziele und Strategien politischer Partizipation beruhen auf Analyse und Urteilsbildung.

Wie können Lehrpersonen in EDC/HRE ihre Lernenden bei der Beurteilung politischer Probleme und Auseinandersetzungen unterstützen? Lernende beurteilen ständig politische Sachverhalte – und sei es emotional oder intuitiv. Doch wie gelangen sie zu einem reflektierten Urteil?

Welche Kriterien eignen sich für die politische Urteilsbildung?

Mit demselben Fallbeispiel, das bereits im vorherigen Material verwendet wurde, soll gezeigt werden, wie Kriterien der politischen Urteilsbildung kontrovers diskutiert und gegen einander abgewogen werden können. Durch die Verwendung des gleichen Fallbeispiels zeigen die beiden Materialien wie ein politischer Gegenstand aus verschiedenen Perspektiven untersucht werden kann. Bei der politischen Urteilsbildung steht die policy-Dimension im Vordergrund (siehe Material 1).

Ein Fallbeispiel

Eine Kleinstadt in einer ländlichen Gegend hat eine Schule, die nicht nur von Schüler innen und Schülern aus der Stadt, sondern auch aus bis zu 20 km entfernten Nachbarorten besucht wird. Diesen Kindern und Jugendlichen steht ein Schulbus zur Verfügung. Die Gemeindeverwaltung unterstützt Familienmit niedrigem Einkommen, vor allem jene4, die zwei oder mehr schulpflichtige Kinder haben. Diese Familien erhalten eine Fahrpreisermäßigung von 25 % bis 75 %.

Nun hat die Wirtschaftskrise massive Einbußen bei den Steuereinnahmen bewirkt. Die Vertreterinnen des Stadtparlaments diskutieren jetzt, wie man die Ausgaben kürzen könnte, um die Verschuldung möglichst gering zu halten. Einflussreiche Politiker und Kommentatorinnen haben eine Kürzung oder gar die Streichung der Schulbuszulagen vorgeschlagen. Sie argumentieren damit, dass die Ausgabenkürzungen zwar erheblich seien, jedoch auf so viele Familien verteilt würden, dass die Mehrbelastung kaum spürbar wäre. Viele Familien teilen diese Sicht keineswegs und fordern die Beibehaltung der Familienzulagen.

Das Fallbeispiel ist fiktiv, dürfte aber in wirtschaftlich schwierigen Zeiten durchaus typisch für Debat-ten um die Senkung der öffentlichen Ausgaben stehen. Wie ist dieser Fall zu beurteilen?

Die Gemeinde muss sich mit einem Zielkonflikt auseinandersetzen:

  1. Familien mit niedrigem Einkommen, insb. mit zwei oder mehr Kindern, sind auf Unterstützung angewiesen. Daraus folgt, dass ein Teil des Gemeindeetats Leistungen für Familien vorbehalten bleiben muss.
  2. Die Gemeindeverwaltung muss das Problem sinkender Steuereinnahmen während des Konjunkturabschwungs lösen. Sie möchte Ausgaben kürzen oder streichen, z.B. die Fahrtkostenzuschüsse für ärmere Familien.

Die Gemeinde hat es mit einem Zielkonflikt zu tun, da die Mittel, mit denen sie erreicht werden kön-nen, sich gegenseitig ausschließen. Während das erste Ziel Ausgaben erfordert, bedingt das zweite Einsparungen. Ein möglicher Ausweg – eine Finanzierung über Fremdkapital – hätte erhebliche unerwünschte Folgen. Dadurch ließen sich zwar kurzfristige Engpässe überbrücken, doch Zinsen und Tilgung belasten die öffentlichen Finanzen in der Zukunft. Außerdem kann eine Verschuldung der öffentlichen Hand die Inflation anheizen.

Zwei grundlegende Kriterien zur Beurteilung politischer Entscheidungen

In einer Demokratie müssen die politischen Entscheidungsträgerinnen die Alternativen und ihre jeweiligen Konsequenzen bei der Entscheidungsfindung beurteilen können. Teilhabe der Bürgerinnen und Bürger bedeutet, dass sie den Entscheidungsprozess und die Abwägung der Alternativen nachvollziehen beurteilen können. Nur so sind sie in der Lage, die von der Regierung oder dem Parlament getroffenen Entscheidungen mitzutragen oder aber abzulehnen.

Wir können die politische Urteilsbildung eines einzelnen als einen konstruktivistischen Denkprozess betrachten, der einer inneren Debatte gleicht. Dabei berufen sich verschiedene innere Stimmen oder „Sprecher” auf unterschiedliche Werte oder Grundsätze, die zu unterschiedlichen Entscheidungen führen. Das Individuum agiert wie ein Richter, der sich alle „Sprecher” anhört, deren Argumente gegeneinander abwägt oder nach Prioritäten ordnet, bevor er sein Urteil fällt, das dann den Weg zum Handeln ebnet. Zur Veranschaulichung können wir uns einen fiktiven inneren Dialog zum Fallbeispiel „Familienzuschüsse vs. Sparen” vorstellen.

Erster Sprecher / Erste Sprecherin

„Unser Gemeinwesen ist den Menschenrechten verpflichtet und hat viele von ihnen in unsere Verfassung aufgenommen. Dazu gehört das Recht auf Bildung sowie auf einen angemessenen Lebensstandard. Familien genießen den besonderen Schutz des Staates. Familien dienen der Gesellschaft als Ganzes59, indem sie die Sorge für die junge Generation gewährleisten. Deshalb müssen wir unserer Pflicht nachkommen, für die Familien zu Sorgen, insb. jene mit geringem Einkommen. Aus diesem Grunde fordere ich, dass die Schulbuszuschüsse unangetastet bleiben – gerade in diesen schwierigen Zeiten.”

Zweiter Sprecher / Zweite Sprecherin

„Wenn wir die Verantwortung für die Gesellschaft übernehmen wollen, müssen wir die Probleme und Gefahren bestimmen, mit denen wir es zu tun haben, und eine Lösung für sie finden. Mittelfristig gesehen können wir nicht mehr ausgeben als wir einnehmen. Wenn unser Steueraufkommen sinkt, müssen wir auch die Ausgaben senken. Wir erweisen den Familien keinen guten Dienst, wenn wir Zulagen über Kredite finanzieren. Denn alle Familien und insbesondere die Kinder werden dereinst ihren Teil plus die Zinsen zurückzahlen müssen. Eine effiziente Lösung unseres Finanzierungsproblems hingegen dient allen. Ich fordere eine Kürzung der Ausgaben, um eine Finanzierung über Fremdkapital zu vermeiden, und bitte die Familien, ihren Beitrag zu leisten.”

Es könnten weitere Sprecher und Sprecherinnen in dieser inneren Debatte das Wort ergreifen und weitere Perspektiven einnehmen. Ein dritter Sprecher könnte das Prinzip der Nachhaltigkeit einfüh-ren und nach den langfristigen Folgen einer Entscheidung fragen, eine vierte Sprecherin könnte an das Gebot der Fairness (Rawls) erinnern, dem zu Folge jede politische Entscheidung für alle, gerade auch die am schlechtesten Gestellten, zumutbar bleiben müsse, wir also jede Entscheidung aus der Sicht der Betroffenen prüfen müssten. Eine fünfte Sprecherin könnte daran erinnern, dass was immer wir an sozialen Wohltaten verteilen wollen, zuvor von jemand erwirtschaftet sein muss.

Je differenzierter die Kontroverse, desto schwieriger wird die Abwägung und die Entscheidung für eine politische Maßnahme. Die Lehrperson sollte prüfen, wie komplex das Tableau der Argumente für die Lernenden sein kann, doch sollten sich die Lernenden mit mindestens zwei konträren Positionen auseinandersetzen (Kontroversitätsgebot)60. Im Folgenden vertiefen wir die Frage nach den Kriterien der Urteilsbildung am Beispiel der ersten drei Sprecher.

Zwei grundlegende Perspektiven der politische Urteilsbildung

Die ersten beiden Sprecher folgen gegensätzlichen Auslegungen des Prinzips Verantwortung. Der erste Sprecher definierte Verantwortung normativ und berief sich auf das Wertesystem der Menschenrechte61. Armut verletze die Menschenwürde, und der Staat sei daher im vorliegenden Fall verpflichtet, kinderreiche Familien mit niedrigem Einkommen zu unterstützen. Der zweite Sprecher definiert Verantwortung als Auftrag zur Problemlösung. Die effiziente Lösung eines dringenden Problems habe Vorrang, und keine Tabus dürften von dieser Priorität ablenken. Der dritte Sprecher be-rücksichtigt sowohl die wert- und zweckrationale Position und prüft sie im Hinblick auf ihre langfristigen Folgen.

Vereinfacht ausgedrückt fordert der erste Sprecher, dass die Bürgerinnen und Bürger von ihren Eliten menschlich behandelt werden und sie „etwas zu sagen haben“, während der zweite Sprecher darauf pocht, dass die Menschen gut regiert werden. Der erste Sprecher oder die erste Sprecherin geht vom ethisch Notwendigen aus und argumentiert normativ bzw. wertrational, der oder die zweite geht vom Notwendigen und Machbaren aus und argumentiert zweckrational62. Die Positionen beider Seiten sind ernst zu nehmen, doch reden sie aneinander vorbei, solange sie ihren Standpunkt absolut setzen.

Der dritte Sprecher weist einen Weg, um aus dieser Sackgasse heraus zu kommen. Das Prinzip der Nachhaltigkeit interpretiert Verantwortung in einer Weise, dass Wert- und Zweckrationalität berück-sichtigt werden. Wir fragen nach den Folgen einer möglichen Entscheidung – im Sinne sozialer Gerechtigkeit (erster und vierter Sprecher), für die Sicherung unseres Wohlstands (zweiter und fünfter Sprecher) sowie für die natürliche Umwelt. Wir müssen nach den Folgen unserer Entscheidung für die nachfolgenden Generationen fragen (Zeitdimension), und zwar nicht nur bei uns, sondern auch in anderen Teilen der Welt (globale Dimension). Sehr oft werden wir feststellen, dass wir diese Fragen nicht beantworten können, aber trotzdem entscheiden müssen (Problem des Nichtwissens). Dann erscheint es vernünftig und verantwortungsvoll, möglichst „auf Sicht zu fahren“ und Entscheidungen ggf. zu korrigieren, wenn wir die Folgen besser verstehen.

Politische Urteilsbildung in EDC/HRE

In der Schule machen die Lernenden von ihrem Recht auf Gedanken- und Meinungsfreiheit Gebrauch63. Lernende, die sich auf ihre innere Debatte eingelassen haben, können sich auch frei entscheiden. Die Lehrperson sollte sich nicht als weitere Stimme in den Prozess der Urteilsbildung einmischen, denn in einer Demokratie besitzt niemand die Deutungshoheit, um die „richtige“ Entscheidung vorzugeben (Überwältigungsverbot des Beutelsbacher Konsens). Die Lehrperson sollte es insbesondere vermeiden zu moralisieren oder die Lernenden dazu drängen, auf eine bestimmte Weise zu handeln. Die Entscheidung über diese Frage liegt bei den Lernenden

Die Lernenden sind daher frei in der Wahl ihrer Urteilsmaßstäbe. Die Lehrperson kann und sollte die Lernenden auffordern, ihre Kriterien zu reflektieren und möglichst zu begründen. Diese Denkanstrengung wäre ein großer Fortschritt gegenüber einem Urteil, das auf Emotion oder Intuition gründet („gut – schlecht“).

Die Lernenden sollten verstehen, dass politische Akteure unter Entscheidungszwang stehen, und der Verzicht auf ein Urteil und eine Entscheidung sich in der politischen Praxis auswirkt, da anderen die Entscheidung überlassen wird. Deshalb sollten sie die Sprecher ihrer inneren Debatte nicht entlassen, ohne zu einer Entscheidung zu gelangen. Falls sie es mit Zielkonflikten wie im vorliegenden Fall zu tun haben, könnten die Lernenden:

  • Prioritäten bestimmen und sich einer Forderung anschließen, also entweder den Fahrtkostenzuschuss beibehalten oder aber deutlich absenken, wenn nicht sogar ersatzlos streichen;
  • einen Kompromiss suchen. Sie könnten einen Mittelweg beschreiten, der maßvolle Kürzun-gen des Fahrtkostenzuschusses mit einer überschaubaren Kreditfinanzierung verknüpfen. Oder aber sie kürzen das Gesamtvolumen der Zuschüsse und konzentrieren diese auf die besonders bedürftigen Familien (sehr niedriges Einkommen und/oder drei und mehr Kinder), da diesen die Senkung der Zuschüsse nicht zumutbar wäre. Wenn es darum geht, das Notwendige (Wahrung der Kinder- und Menschenrechte) mit dem Machbaren zu vermitteln, erhalten scheinbar technische Details große Bedeutung.

Die Lehrperson wählt eine Methode aus, mit der sie die Lernenden in ihrem Denkprozess unterstützen kann, z.B.

  • Diskussionen und Debatten im Plenum, kritisches Denken. Die Lehrperson übernimmt in der Regel die Moderation (vgl. Methode 3 im Methodenkoffer für Lehrende in diesem Band);
  • schriftliche Arbeiten mit Rückmeldung durch die Lehrperson oder Mitschüler;
  • handlungsorientiertes Lernen mit Reflexion und Auswertung.

Die Themen, welche die Lehrperson oder die Lernenden auswählen sollten kontrovers sein, d.h. unterschiedliche Perspektiven und Urteilskriterien umfassen (innere Debatte). Die Lehrperson kann die Komplexität der Gegenstände so gestalten, dass die Lernenden „dosiert überfordert“ werden, um ihre Kompetenzen zu fördern. Aus dem gleichen Grund sollte die Lehrperson ihre Hilfestellungen möglichst knapp dosieren. Aktuelle Themen sind in der Regel komplexer, andererseits auch besonders reizvoll für die Lernenden, da sie – und die Lehrperson – als Pioniere arbeiten.

59. Protokoll der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte (20. März 1952), Artikel 2.
60. Vgl. dazu das Kapitel zum Beutelsbacher Konsens in diesem Band (Teil 1, Einheit 3, Kapitel 5).
61. Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (10. Dezember 1948), Artikel 25
62. Dazu ausführlicher Ackermann, Paul u. a. (Hrsg.; 2013): Politikdidaktik kurz gefasst. Planungsfragen für den Politikunterricht. 3. Aufl., Schwalbach: Wochenschau Verlag, S. 67 ff.
63. UNO-Kinderrechtskonvention (20. November 1989), Artikel 13, 14; Europäische Menschenrechtskonvention (4. November 1950), Artikel 9, 10