Kapitel 6 – Politische Grundpositionen verstehen

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Einführung

Das Bild zeigt einen Jungen und ein Mädchen, die einander gegenüberstehen. Sie präsentieren einander ihre Würfel auf denen Symbole zu erkennen sind, die für politische Grundpositionen stehen. Es ist wichtig, dass die beiden einander anlächeln, denn ihre Symbole markieren Gegensätze und Streit. Es lohnt sich, die Symbole zu deuten, soweit dies möglich ist. Der Junge zeigt das Symbol der Bewegung gegen atomare Rüstung, das für eine pazifistische Position steht. Der Stern kann den Kampf für den Sozialismus symbolisieren, jedoch auch als Pentagramm gelesen werden, das eine ganzheitliche Betrachtung des Menschen als Teil des Universums ausdrückt. Mit den Zickzacklinien könnte Wasser gemeint sein, z.B. als Symbol für den Umweltschutz; sie könnten aber auch etwas völlig anderes bedeuten. Auf dem Würfel des Mädchens kann man das A im Kreis erkennen, das Zeichen des Anarchismus. Das Gender-Symbol für das weibliche Geschlecht könnte auf eine feministische Position hinweisen. Die Blume könnte für Umweltschutz oder Frieden stehen, vielleicht wollte das Mädchen aber auch etwas anderes damit ausdrücken. Die beiden jungen Menschen auf dem Bild machen von ihren Menschenrechten Gebrauch: der Gedanken- und Ausdrucksfreiheit sowie der Gleichberechtigung.

Das Bild vermittelt eine überraschend komplexe Botschaft. Wenn wir politisch Position beziehen, arbeiten wir mit Symbolen und Konzepten, um unsere Vorstellungen und Ansichten ausdrücken. Symbole können jedoch auch ambivalent oder irreführend sein. Deshalb müssen wir einander unsere Entscheidung für eine politische Position sorgfältig erklären und entsprechend genau zuhören. Wir können in vielen Punkten einander widersprechen oder übereinstimmen. Die sechs Symbole auf dem Bild und die Haltung der beiden jungen Menschen vermitteln uns bereits die Idee einer offenen, pluralistischen Gesellschaft. Wir sollten einander respektvoll behandeln, um uns in der Sache streiten zu können – in einer Form, die niemanden verletzt und uns allen nützt.

Auch in diesem Kapitel bewegt sich Demokratie- und Menschenrechtsbildung (EDC/HRE) in einer inhaltlichen und eine kulturellen Dimension. Die inhaltliche Dimension bezeichnet die Auseinandersetzung der Lernenden mit verschieden politischen Grundrichtungen. Die Lernenden arbeiten daran, ihren eigenen politischen Standpunkt zu bestimmen, der ihrem politischen Handeln ein Wertebasis und Orientierung gibt und sie zur politischen Urteilsbildung befähigt (vgl. dazu Petrik 2013).

Die zweite Dimension von EDC/HRE bezieht sich auf eine demokratische Streitkultur – streiten ohne Hass, und vielleicht auch mit einem Lächeln (mehr dazu bei CDC (2016)). Eine derartige Streitkultur können junge Menschen durch Erfahrung und Reflexion in der Schule erwerben. Dieser Lernprozess kann früh beginnen, und er hängt entscheidend ab vom Vorbild der Lehrpersonen und der Schulleitung.
Lehrpersonen sollten ihr Verhalten insb. am Überwältigungsverbot des Beutelsbacher Konsens ausrichten, um zwei Fehlformen zu vermeiden. Eine Falle ist die Unterwerfung unter vermeintlich politisch Korrekte: Die Lehrperson hat weder die Aufgabe noch das Mandat, ihren Lernenden eine bestimmte politische Doktrin zu vermitteln oder ihnen ihre persönliche Meinung aufzudrängen. Sie soll die Lernenden vielmehr befähigen und unterstützen, eigene Standpunkte zu finden, zu begründen und zu verteidigen. Die zweite Falle besteht darin, Äußerungen der Lernenden zu überhören oder umzudeuten – eine subtile Form, die Freiheit der Meinungsäußerung zu unterdrücken. Das Ziel des Überwältigungsverbots ist die freie, ungehinderte Urteilsbildung der Lernenden. Die Lernenden dürfen erwarten, dass Andere ihnen zugehören und auf ihre Beiträge antworten, und sie müssen lernen, diese Erwartungen zu erfüllen. Die Lehrperson sollte die Lernenden auffordern und ermutigen, ihre Position zu begründen, nicht aber zu rechtfertigen. Eine demokratische Streitkultur setzt voraus, dass niemand die Deutungshoheit besitzt oder beansprucht, über die Zulässigkeit bestimmter Positionen oder Meinungsäußerungen entscheiden zu dürfen.

Die folgenden Lernszenarios können für alle Altersgruppen und Schulstufen modifiziert werden.

Literatur

Beutelsbacher Konsens: https://www.lpb-bw.de/beutelsbacher-konsens/ (Abruf am 21.03.2021).

CDC (2016): Council of Europe: Competences for Democratic Culture
https://www.living-democracy.com/competencies-for-democratic-culture/ (Abruf am 21.03.2021)

Petrik (2013): Von den Schwierigkeiten, ein politischer Mensch zu werden. Konzept und Praxis einer genetischen Politikdidaktik. Opladen u.a. Hier insb. Kap. 8, S. 156 ff.