Sequenz 4: Gewalt anwenden

Living Democracy » Textbooks » Sequenz 4: Gewalt anwenden

Ist Gewaltanwendung in manchen Fällen vertretbar?

Ziele Die Lernenden trainieren ihre Analysekompetenz (kritisches Denken) und reflektieren ihre Einstellung zur Anwendung von Gewalt.
Aufgaben Die Lernenden analysieren Fallbeispiele unter der Fragestellung, inwieweit Gewaltanwendung im gegebenen Fall vertretbar ist.
Medien und Hilfsmittel Fallbeispiele und Analysefragen (vgl. Handout 4.4) auf Karten oder A6-Bögen für die Arbeitsgruppen.
Methoden Gruppenarbeit, Plenumsdiskussion, Lehrervortrag.

Frieden und das Gebot der Gewaltlosigkeit

Eine friedliche Welt gilt zwar als leitende Zielsetzung, jedoch schließt weder das internationale Recht zu den Menschenrechten noch das humanitäre Völkerrecht die Anwendung von Gewalt vollständig aus. Das Ziel dieser Sequenz besteht darin, die Kompetenz der Lernenden zum kritischen Denken in Fragen der Zulässigkeit von Gewaltanwendung zu fördern. Die Lernenden sind aufgefordert, ihr persönliches Verhalten zu reflektieren und dabei sowohl ihre eigene Bereitschaft zur Gewaltanwendung als auch ihre Reaktion auf Gewaltanwendung durch Andere in ihrem Umfeld in den Blick zu nehmen.

Die Lehrperson muss informiert sein über die Verfahren und rechtsstaatlichen Mittel zur Konfliktlösung in ihrem Land. Insbesondere sollte sie wissen, inwieweit Menschenrechte und völkerrechtliche Bestimmungen in nationales Recht integriert wurden und somit bei Verstößen Sanktionen möglich sind.

Verlauf der Sequenz

Die Lernenden bilden Vierer- oder Fünfergruppen. Eine Schülerin bzw. ein Schüler oder die Lehrperson präsentiert die Fallstudie 1 auf dem Handout 4.4. Die Gruppen erhalten den Text des Fallbeispiels und der Fragen auf einer Karte. Die Lehrperson stellt den Gruppen die Aufgabe, mit Hilfe der Fragen auf der Karte das Fallbeispiel zu durchdenken. Die Leitfrage bei allen Fallbeispielen lautet: Inwieweit ist die Anwendung von Gewalt vertretbar (vgl. Thema der Sequenz)?

Die Gruppen bestimmen eine Sprecherin oder einen Sprecher und präsentieren ihre Lösungen anschließend im Plenum. Sie vergleichen ihre Lösungen, geben einander Feedback und diskutieren sie. Die Lehrperson beantwortet Fragen nach der nationalen und internationalen Rechtslage (vgl. Informationen zu den Fallbeispielen (s.u.)).

Bei realistischer Zeitplanung lassen sich höchstens zwei Fallbeispiele in einer Sequenz bearbeiten. Die Lehrperson wählt daher ein oder zwei Fallbeispiele aus oder plant eine weitere Sequenz ein, falls mehr Fälle analysiert werden sollen und entsprechend Zeit zur Verfügung steht. Eine reizvolle Variante besteht auch darin, dass die Lernenden, ausgehend von einem Fallbeispiel, zur Rechtslage in ihrem Land recherchieren.

Handout 4.4: Version für die Lehrperson
Fallbeispiele, Fragen und Zusatzinformationen

Fallbeispiel 1

Während einer Protestdemonstration gegen Globalisierung wirft eine kleine Gruppe von Menschen Steine gegen die Zentrale eines bekannten transnationalen Unternehmens. Die Polizeikräfte vor Ort werden Zeuge dieser Aktion und versuchen, die beteiligten Personen zu festzunehmen. Während dieses Einsatzes wird ein Polizist von den Steinewerfern überwältigt und schwer verprügelt.

Fragen:
  1. Wäre es vertretbar, dass die Polizei Schusswaffen gegen die Steinewerfer einsetzt?
  2. Wäre es vertretbar, dass die Polizei Maschinengewehre gegen die Steinewerfer einsetzt?
  3. Wäre es vertretbar, dass die Polizei Wasserwerfer anfordert und wartet, bis diese vor Ort sind?
  4. Wäre es vertretbar, dass die Polizei bei ihrer Intervention auf Gewalt verzichtet, um eine Eskalation des Konflikts zu vermeiden?
Information

Nach internationalen Standards ist die Polizei unter bestimmten Bedingungen berechtigt, Gewalt anzuwenden. Gewalt sollte allerdings nur angewandt werden, falls notwendig, und ihr Gebrauch sollte im Verhältnis zum Ziel der Intervention stehen. Falls ein Polizeibeamter oder eine Polizeibeamtin den Befehl vom Vorgesetzten erhält, auf eine Art einzugreifen, die diesem Grundsatz eindeutig zuwiderläuft, erwarten die UNO-Richtlinien vom ihm bzw. ihr, sich dem Befehl zu widersetzen.

Fallbeispiel 2

Das Land X erklärt dem Land Y den Krieg, weil Y erwiesenermaßen Rebellengruppen, die vom Land Y aus gegen das Land X operieren, schützt und sogar finanziell unterstützt. Die Geheimdienste des Landes X finden heraus, in welchem Dorf sich eine Gruppe von gut ausgebildeten und bewaffneten Rebellen aufhält und dass sie einen größeren Bombenanschlag auf eine bedeutende Industrieanlage vorbereiten.

Fragen:
  1. Wäre es vertretbar, wenn das Land X das Dorf intensiv bombardieren würde, um sicherzustellen, dass nur wenige Personen, einschließlich der Dorfbewohner, den Angriff überlebten?
  2. Wäre das in Frage 1 beschriebene Vorgehen vertretbar, wenn zuvor die Rebellen unmissverständlich aufgefordert wurden, sich zu ergeben, und nach einer ebenso klaren Warnung an die Bevölkerung, das Dorf zu verlassen und sich im Sportstadion am Ort zu versammeln, wo sie eingelassen würden, nachdem sie nach Waffen durchsucht worden wären?
  3. Wäre es vertretbar, ohne Anwendung von Gewalt gegen den drohenden Anschlag vorzugehen? Welche Alternativen kannst du dir vorstellen?
Information

Internationale Regeln zur Kriegführung (die sogenannten „Genfer Konventionen“) sehen kein komplettes Verbot militärischer Gewalt vor, verbieten aber bestimmte Arten von Interventionen oder Waffen. Eines der Prinzipien lautet, dass militärische Gewalt nicht gegen nicht-militärische Ziele und auch weder willkürlich noch unverhältnismäßig eingesetzt werden sollte. Daher sind die Krieg führenden Parteien verpflichtet, sich ernsthaft zu bemühen, zivile Opfer zu vermeiden, indem man z.B. darauf verzichtet, Bomben mit höchster Sprengkraft gegen militärische Ziele einzusetzen, wenn auch weniger starke Bomben genügen würden. Auf diese Weise können Opfer unter der Zivilbevölkerung und der Tod vieler Unschuldiger (sogenannte „Kollateralschäden“) vermieden werden. Wie weiter oben erwähnt, heißt das aber nicht, dass die Genfer Konventionen Kollateralschäden grundsätzlich ausschließen, vielmehr nehmen sie diese bis zu einem gewissen Grad in Kauf.

Im vorliegenden Fall ist zu berücksichtigen, dass es sich um einen sog. Asymmetrischen Konflikt handelt, in dem ein Staat nicht gegen einen anderen Staat kämpft, sondern gegen eine Rebellengruppe. Die Genfer Konventionen sind Abkommen zwischen Staaten, jedoch gelten sie nicht für nichtstaatliche Gewaltakteure wie etwa eine Rebellengruppe. Asymmetrische Kriege werden von den Genfer Konventionen somit nicht erfasst. Der Staat Y, der die Rebellen einen Stellvertreterkrieg gegen Staat X führen lässt, befreit sich auf diese Weise von der Bindung an die Genfer Konventionen. Der Staat X ist jedoch weiterhin an die Genfer Konventionen gebunden, und insofern gilt für ihn auch weiterhin das Gebot zur Minimierung von Kollateralschäden für den Staat X, auch wenn die Rebellen Bürger des Staates Y als menschliche Schutzschilder missbrauchen. Zugespitzt formuliert, fesselt das internationale Kriegsrecht den Goliath und begünstigt den David (Herfried Münkler).

Fallbeispiel 3

Herr X, ein junger Mann, der als technischer Assistent im städtischen Krankenhaus arbeitet, schlägt seine Frau regelmäßig, wenn er betrunken nach Hause kommt. Einmal informierte die Frau die Polizei, dass sie von ihrem Mann geschlagen werde, teils auch mit ernsthaften Verletzungen. Die Frau des Nachbarn, die zufällig mitbekam, was nebenan geschah, kann sich nun vorstellen, was es bedeutet, wenn sie ihre Nachbarn streiten und schreien hört.

Fragen:
  1. Sollte die Frau des Nachbarn in solchen Fällen die Polizei informieren oder wäre das eine inakzeptable Einmischung ins Privatleben ihrer Nachbarn?
  2. Wenn die Polizei von einer Person informiert wird, sollte sie unter diesen Umständen eingreifen?
Informationen

„Die Staaten sollen Gewalt gegen Frauen verurteilen und keinerlei Brauch, Tradition oder religiöse Erwägung geltend machen, um sich ihren Verpflichtungen im Hinblick auf die Beseitigung dieser Art von Gewalt zu entziehen. Die Staaten sollen mit allen geeigneten Mitteln unverzüglich eine Politik zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen verfolgen und sollen zu diesem Zweck

a) erwägen, soweit sie es nicht bereits getan haben, die Konvention über die Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau zu ratifizieren oder ihr beizutreten oder etwaige Vorbehalte zu¬rück¬zuziehen;
b) die Anwendung von Gewalt gegen Frauen unterlassen;
c) mit der gebührenden Sorgfalt vorgehen, um Gewalthandlungen gegen Frauen zu verhüten, zu untersuchen und im Einklang mit ihren innerstaatlichen Rechtsvorschriften zu bestrafen, unabhängig davon, ob diese Handlungen vom Staat oder von Privatpersonen begangen wurden; (…)“

(Erklärung der UNO-Generalversammlung über die Beseitigung der Gewalt gegen Frauen (20.12.1993) Artikel 4)28.

Fallbeispiel 4

Leo ist 13, schlank und für sein Alter recht klein. Er wird oft von älteren Jungen schikaniert und bedroht, wenn er auf den Spielplatz geht. Dieses Mal sagt er den Jungen, dass sie ihn nicht ständig belästigen sollen und dass sie sich wie ungebildete, primitive Menschen verhalten würden. Das hat zur Folge, dass die älteren Jungen anfangen, ihn schwer zu verprügeln. Leos Freund sieht das, als er den Spielplatz betritt. Einige ältere Leute, die auf dem Markt eingekauft haben und auf dem Weg nach Hause zufällig gerade den Spielplatz überqueren, sehen es auch.

Fragen:
  1. Sollte Leos Freund in diesem Fall eingreifen? Wie?
  2. Sollten die älteren Leute eingreifen? Wie?
  3. Welche anderen Lösungen würdet ihr vorschlagen?

Als Zusatzaufgabe könnten die Lernenden einen Brief an die älteren Jungen entwerfen, indem sie ihnen darlegen, wie sie ihr Verhalten beurteilen. Dies könnte eine Hausaufgabe sein oder eine Aufgaben für Gruppen, die schneller arbeiten als andere.

28. https://www.un.org/depts/german/de/index.html Nr. A/RES/48/104 (Abruf am 02.07.2020).