Teil 1 – Demokratie und Menschenrechte verstehen

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Die Idee der Demokratie- und Menschenrechtsbildung (EDC/HRE) ist nicht neu. In mehreren europäischen Ländern ist politische oder staatsbürgerliche Bildung seit vielen Jahren in den Lehrplänen enthalten. Zumeist ging es dabei um Institutionenkunde, vor allem die Verfassungsordnung und den Staatsaufbau, deskriptiv im Frontalunterricht dargeboten. Mit diesem didaktischen Ansatz ging ein verkürzter Teilhabebegriff einher, der den Bürgern eine passive Rolle zuwies. Für die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung erschöpfte sich die Bürgerrolle in der Erwartung, die Gesetze einzuhalten und an Wahlen teilzunehmen.

Ein ganzes Bündel von Umwälzungen, Probleme und Konflikten hat jedoch dazu geführt, dass seit einigen Jahren wird dieses traditionelle Modell der Bürgerrolle in Europa zunehmend in Frage gestellt wird. Dazu gehören:

  • ethnische Konflikte und Nationalismus;
  • globale Bedrohungen und sicherheitspolitische Herausforderungen;
  • Entwicklung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien;
  • Umweltprobleme;
  • Bevölkerungsbewegungen, Migration;
  • Auftreten neuer Formen bislang unterdrückter kollektiver Identitäten;
  • Forderung nach zunehmender persönlicher Autonomie und nach neuen Formen der Gleichberechtigung und Partizipation;
  • Abschwächung des sozialen Zusammenhalts und der Solidarität;
  • Misstrauen gegenüber politischen Institutionen, politischer Führung und politischen Eliten;
  • wachsende Verflechtung und gegenseitige Abhängigkeit – politisch, wirtschaftlich und kulturell, regional und global.

Angesichts derartiger Herausforderungen war es offensichtlich, dass mit den Gesellschaften auch die Rolle der Bürger sich weiter entwickeln musste: Gewiss sollten Bürgerinnen ihre institutionalisierten Rechte und Pflichten kennen und verstehen. Entscheidend war jedoch, dass sie fähig und bereit waren, aus eigener Initiative einen Beitrag zu ihrer Gemeinde, ihrem Land oder der Weltgemeinschaft zu leisten. Diese aktive Bürgerrolle zeichnet sich dadurch aus, dass Bürgerinnen und Bürger sich einbringen und einmischen, um ihre persönliche Perspektive und ihre Interessen zum Ausdruck zu bringen und zur Lösung anstehender Probleme und Konflikte beizutragen. EDC/HRE hat sich zum Ziel gesetzt, junge Menschen zu ermutigen und zu unterstützen, sich zu aktiven, verantwortungsbewussten Bürgern zu entwickeln, ohne die eine moderne demokratisch Gesellschaft nicht weiter bestehen kann.

EDC/HRE steht für das Prinzip der diskursiven, gewaltfreien Konfliktlösung in der Demokratie. Seit dem Erscheinen der englischsprachigen Ausgabe im Jahr 2010 scheint dieses Prinzip auf größeren Widerstand zu stoßen – offensichtlich aufgrund der verstärkten Polarisierung in unseren Gesellschaften und des Erstarkens der sog. Neuen Rechten. Die Aufgabe für EDC/HRE mag Anfang der 2020er Jahre schwieriger geworden sein, obsolet ist sie nach unserer Überzeugung keineswegs – ganz im Gegenteil. Demokratie bleibt ein prekäres Projekt, und Demokratie- und Menschrechtsbildung sind heute notwendiger und wichtiger denn je, um jene politische Kultur zu stärken, auf die eine Demokratie angewiesen ist.