EINHEIT 7: Gleichberechtigung

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Ist die Mehrheitsregel fair?

Einheit 7: Basiskonzept „Gleichberechtigung“ (Sekundarstufe II)

Ist die Mehrheitsregel fair? Wie lassen sich in einer Demokratie Mehrheitsregel und Minderheitenschutz in Einklang bringen?

Information für Lehrpersonen

Alle Menschen sind frei und gleich an Würde geboren.

(Art. 1 Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (AEMR), 10.12.1948

Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich und haben ohne allen Unterschied Anspruch auf gleichen Schutz durch das Gesetz. Alle haben Anspruch auf gleichen Schutz gegen jede Diskriminierung (…)
(Art. 7 AEMR)

In einer Demokratie entscheidet die Mehrheit, und die Minderheit muss deren Entscheidung akzeptie-ren. Da Entscheidungen in demokratischen Systemen revidierbar sind, kann eine Minderheit es ertragen, überstimmt zu werden. Doch was geschieht, wenn eine Gruppe “die ewige Minderheit wird”, die ein ums andere Mal überstimmt wird? Tocqueville sprach von einer “Tyrannei der Mehrheit” (vgl. Schmidt 2010;121ff., 254ff.).

In der Einheit 7 setzen sich die Lernenden mit diesem Problem auseinander, das zu den Grundproblemen einer Demokratie gehört. Es ist dringlich, da der Zusammenhalt (die Kohäsion) einer Gesellschaft gefährdet ist, wenn manche Gruppen den Eindruck gewinnen, dass ihre Interessen permanent ignoriert werden. Der Grundsatz der Gleichberechtigung von Mehrheiten und Minderheiten kann in Konflikt mit der Mehrheitsregel der Demokratie geraten, z.B. weil keine qualifizierten Mehrheiten vorgesehen sind, welche den Minderheitsgruppen in bestimmten Fragen ein Mitentscheidungsrecht sichern (Problem der Pfadabhängigkeit politischer Entscheidungsprozesse).

In der vorliegenden Einheit analysieren die Lernenden das Problem anhand einer Fallgeschichte, die die Spannung zwischen Mehrheit und Minderheit modellhaft zuspitzt. Die Idee zu dieser Fallgeschichte geht auf eine Anregung von Miller (2003;44ff.) zurück; der “plot” ist folgender: In einem Sportverein streiten sich eine und eine deutlich kleinere Gruppe von Mitgliedern über die Verwendung der Mitgliederbeiträge. Die Mehrheit überstimmt die Minderheit, ohne auf deren Interessen zu achten. Das Problem ist im Vergleich zur gesellschaftlichen Wirklichkeit weniger komplex, doch im Kern identisch: Die demokratische Mehrheitsregel wirkt desintegrierend und konfliktträchtig, wenn Minderheiteninteressen permanent missachtet werden. Die damit verbundene Legitimationskrise birgt allerdings auch die Chance, Institutionen zu reformieren, um z.B. das Problem der Pfadabhängigkeit zu lösen.

Die Lernenden erhalten den Auftrag, neue Bestimmungen für eine Vereinssatzung – jedoch keine komplette Satzung – zu entwerfen. Diese Bestimmungen sollen das Problem lösen, wie die Interessen von Mehrheit und Minderheit gewahrt werden können, ohne die Mehrheitsregel zu verletzen. Unterschiedliche Ansätze sind denkbar, die auch den unterschiedlichen Prinzipien der Konstruktion einer Verfassung zugrunde liegen. So könnten z.B. Minderheitengruppen eine Teilautonomie erhalten, um ihre Interessen wahrzunehmen (föderales bzw. kantonales Modell). Oder die Reichweite von Mehrheitsentscheidungen könnte durch generelle Menschen- und Bürgerrechte eingeschränkt werden, die allen Entscheidungen übergeordnet sind. Freilich reichen Verfahrensprinzipien allein nicht aus, um sicherzustellen, dass Minderheitsgruppen fair behandelt werden und den Willen der Mehrheit respektieren. Demokratische Gesellschaften sind auf eine Kultur der Verantwortlichkeit und gegenseitigen Anerkennung angewiesen, d.h. jenseits aller Verfassungsprinzipien und Verfahrensregeln kommt es darauf an, wie die Mitglieder einer Gesellschaft miteinander umgehen.

Didaktisch orientiert sich die Einheit 6 am genetischen Zugang zum Politischen (vgl. Petrik 2013). Die Lernenden erarbeiten sich als Konstrukteure demokratischer Institutionen ein Verständnis der Wirkungsweise politischer Institutionen in ihrer Verfassung. Sie schärfen ihr Verständnis des Mehrheits-/Minderheitenproblems und entdecken dabei demokratische Verfassungs- und Verfahrensprinzipien oder wenden ihre diesbezüglichen Kenntnisse an.

Die Einheit ist exemplarisch und handlungsorientiert angelegt. Sie bietet den Lernenden die Lernchance, Kompetenzen problemlösenden Denkens zu entwickeln (vgl. Roth 1965:116). Problemlösung umfasst Analyse, Urteilsbildung und Entscheidung, also die Wahl zwischen verschiedenen denkbaren und vertretbaren Alternativen. Die Lernenden setzen sich mit dem Grundprinzip der Gerechtigkeit und dem Gebot der Gleichberechtigung in den Menschenrechten auseinander; sie denken darüber nach, inwieweit Gleiches gleich („jedem das Gleiche“) bzw. Ungleiches ungleich („jedem das Seine“) behandelt werden sollte.

Zugleich schärfen sie ihren Blick dafür, wie in der Verfassung ihres Landes das Mehrheits-/Minderheitenproblem gelöst bzw. wie es in der Öffentlichkeit diskutiert wird. Zur Vertiefung und als Transfer wird eine entsprechende Rechercheaufgabe vorgeschlagen.

Kompetenzentwicklung: Die Verknüpfung mit den übrigen Einheiten in diesem Band

Inhalt der Matrix

Der Titel dieses Lehrerhandbuchs – Teilhabe an der Demokratie – fokussiert auf die Kompetenzen der aktiven Bürgerin und des aktiven Bürgers in der Demokratie. Die nachfolgende Matrix zeigt potenzielle Synergien zwischen den verschiedenen Sequenzen in diesem Band. Die grau unterlegte Zeile enthält die Kompetenzen, die in der vorliegenden Einheit 7 (Gleichberechtigung) trainiert werden. Die nachfolgenden Zeilen verweisen auf jene Sequenzen in diesem Band, in denen die Lernenden Kompetenzen trainieren, die mit denen in dieser Einheit zusammenhängen. Die stark eingerahmte Spalte hebt die politischen Entscheidungs- und Handlungskompetenzen hervor, die von besonderer Bedeutung sind für die Teilhabe an demokratischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozessen.

Funktion der Matrix

Die Lehrperson kann die Matrix als Planungsinstrument für Demokratie- und Menschenrechtsbildung in unterschiedlicher Weise einsetzen:

  • Die Matrix liefert Kriterien für die Auswahl einer Einheit unter dem Gesichtspunkt, welche Kompetenzen vorrangig trainiert werden sollen, insbesondere dann, wenn nur wenig Zeit zur Verfügung steht. Im Falle der Einheit 7 geht es um die Kompetenzen der Problemanalyse und Problemlösung, und inhaltlich um den Minderheitenschutz in der Demokratie.
  • Diese Synergien lassen sich umgekehrt auch zur Konstruktion von Transferschleifen verwenden. Die Lehrperson kombiniert also jene Einheiten, die ein intensives Training bestimmter Kompetenzen ermöglichen.

 

Einheiten Dimensionen der Kompetenzentwicklung Einstellungen und Werte
Analyse- und politische Urteilskompetenz Erkenntnisziele Methoden und Fertigkeiten TEILHABE AN DER
DEMOKRATIE
Politische Entscheidungs- und Handlungskompetenz
7 Gleichheit

Ein Grundproblem der Demokratie: die Balance zwischen Mehrheitsregel und Minderheitenschutz.

Menschenrechte liefern Werte und
Kriterien zum Schutz der Einzelnen sowie von Minderheiten.

Föderale und kantonale Institutionen
verschaffen Minderheiten eine Teilautonomie.

Ein politisches Problem analysieren und lösen.

Ideen, Werte und Lösungsansätze vortragen und für sie werben.

Eine Entscheidung treffen: alternative Lösungsansätze vergleichen, beurteilen und auswählen.

Gegenseitige

Anerkennung.

2 Verantwortung Die Folgen einer Entscheidung für andere mitberücksichtigen.

Handlungsoptionen analysieren und beurteilen.

Die Wahl der
Beurteilungskriterien begründen.

Gegenseitige Anerkennung.

Reziprozität: Anderen nur zumuten, was man selbst akzeptieren würde.

1 Identität Eine Wahl treffen, Prioritäten
bestimmen.
4 Konflikt

Interessenkonflikt.

Konflikttypen

Verhandeln Fairness.
5 Regeln und Recht In einem
demokratischen System unterstützen Institutionen die gewaltfreie Lösung von Konflikten.Institutionen haben eine dienende
Funktion.
Institutionen zur Konfliktlösung in einer Gesellschaft entwerfen. Wertschätzung gewaltfreier Verfahren der Konfliktlösung.
3 Pluralismus und Vielfalt In einer pluralistischen Gesellschaft entstehen Minderheitengruppen mit divergierenden Interessen. Verhandeln.

 

Einheit 7: Gleichberechtigung –Ist die Mehrheitsregel fair?

Wie lassen sich in einer Demokratie Mehrheitsregel und Minderheitenschutz in Einklang bringen?

Thema Kompetenzen,
Erkenntnisziele
Aufgaben Medien und Hilfsmittel Methode

Sequenz 1

Die Mehrheit entscheidet – und das war’s?

Problemanalyse.

Das Problem der „ewigen Mehrheit“: Minderheiten müssen sich stets fügen.

Die Lernenden analysieren und beschreiben ein
politisches Problem.
Handout 7.1, 7.3, 7.4. Einzelarbeit, Plenumsdiskussion, Gruppenarbeit (Projekt)

Sequenz 2

Wie können wir die Interessen der Mehrheit und Minderheit in Einklang bringen?

Problemlösung, Teamarbeit, Zeitmanagement.

Institutionen dienen zur Lösung von Problemen und Konflikten in der Gesellschaft.

Die Lernenden suchen nach Lösungen, um das Mehrheits-/Minderheiten-Problem in einer kleinen
Gemeinschaft zu lösen.

Flipchartbögen und Marker.

Handout 7.1, 7.3; 7.2 (Option zur Binnendifferenzierung).

Projektarbeit

Sequenz 3

Lösungsideen im Vergleich

Problemlösendes Denken, Abstrahieren,
Vergleichen.

Regeln, Gesetze und Verfassungen dienen als Instrumente zur Lösung politischer Probleme.

Die Lernenden präsentieren und vergleichen ihre Lösungsideen. Vergleichsraster (analog oder digital).
Handout 7.4, 7.5.

Gruppenpräsentationen

Plenumsdiskussion

Sequenz 4

Entscheidung: Wie regeln wir die Rechte der Mehrheit und Minderheit

Erweiterung und Vertiefung: Wie wird das Mehrheits-/Minderheitsproblem in unserer Verfassung gelöst?

Verhandeln: Interessen artikulieren und einen Kompromiss suchen

Spannungsverhältnis zwischen Teilhabe, Fairness und Effizienz.

Teilhabechancen sind pfadabhängig.

Entscheidungszwang ist ein spezifisches Merkmal der Politik.

Politische Institutionen in der Demokratie sind auf die
Zustimmung der Bürgerinnen und Bürger angewiesen (Ordnungskonsens).

Die Lernenden agieren als Mitglieder einer Gemeinschaft mit unterschiedlichen, aber auch gemeinsamen
Interessen. Sie
verhandeln über
Entscheidungsregeln, die der Mehrheitsregel und dem Minderheitschutz genügen.
Handout 7.2, 7.5; für die Ergebnis-Präsentation: Handout 7.5 (digital verfügbar mit Beamer oder als A2-Poster).

Diskussion (Verhandlung)

Klassengespräch
(Reflexion)