Sequenz 3: Du machst das Gesetz

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Wie gehen wir mit jungen Straftäterinnen und Straftätern um?

Ziele

Die Lernenden können die drei Prinzipien der Strafzwecklehre –Vergeltung, Abschreckung und Besserung der Täter und Täterinnen – erläutern.

Sie können die Zielkonflikte in der Anwendung der drei Prinzipien darstellen und begründen, wie sie die Prinzipien im Jugendstrafrecht gewichten.

Aufgaben Die Lernenden analysieren einen konkreten Fall. Sie wägen die drei Strafzwecke gegeneinander ab, um zu einem gerechten Urteil für einen jugendlichen Straftäter zu kommen.
Medien und Hilfsmittel Material für die Lehrperson: Fallgeschichte „Leo und Tom“ mit ergänzenden Informationen.
Methoden Gruppenarbeit, Präsentation und Diskussion im Plenum.

Drei Grundprinzipien zum Zweck der Strafe

Diese Sequenz 3 fokussiert auf das Strafrecht und insb. auf die Frage, ob bzw. wie junge Straftäter/innen bestraft werden sollen. Die Grundfrage der Straftheorie lautet: Wozu bestrafen? Diese Frage wurde im Laufe der Geschichte und der Entwicklungen in Wissenschaft und Philosophie auf verschiedene Weise beantwortet. Drei Prinzipien zum Strafzweck haben sich herausgeschält:

  1. Vergeltung: Die Strafe wird auf die Schwere der Schuld bezogen („Auge um Auge, Zahn um Zahn“). Wer ein Verbrechen begangen hat, hat Strafe verdient, und durch die Strafe drückt die Gesellschaft ihre Missbilligung der Strafe aus. Dieser Grundsatz sorgt für Verhältnismäßigkeit des Strafmaßes und schützt die Straftäter/innen so vor unverhältnismäßig harter Bestrafung. Der Zweck der Strafe besteht darin, die Tat zu sühnen, um Gerechtigkeit wieder herzustellen.
  2. Abschreckung: Die angedrohte Strafe sendet potenziellen Straftätern und -täterinnen ein Signal, das sie von der Tat abhalten soll, da der „Schmerz“ der Bestrafung den erwarteten Nutzen der Straftat überwiegt. Der Zweck der Strafe besteht darin, weitere Straftaten zu verhindern.
  3. Besserung des Täters / der Täterin (Rehabilitation): Eine Straftat wird als Hilfeschrei gedeutet. Der Täter bzw. die Täterin benötigen statt einer Strafe eher eine therapeutische Behandlung. Der Zweck der Strafe besteht darin, einer beschuldigten Person zu helfen, keine weiteren Straftaten zu begehen und in die Gesellschaft zu integrieren.

Weltweit unterscheiden sich Strafsysteme erheblich in der Art, wie sie diese drei Prinzipien bei erwachsenen oder jugendlichen Straftätern gewichten. In zahlreichen Ländern ist eine Tendenz festzustellen, die Rehabilitation stärker zu gewichten als das Prinzip der Vergeltung und der Abschreckung, insb. im Jugendstrafrecht. Daher spielt der Frage nach der Altersgrenze zwischen jugendlichen und erwachsenen Straftätern und -täterinnen keine große Rolle. Der Europarat plädiert für eine Altersgrenze von 18 Jahren und beruft sich auf die Kinderrechtskonvention von 1989 (siehe die Information für Lehrpersonen).

Diese Sequenz führt die Lernenden in die drei Prinzipien der Strafzwecklehre ein. Auch hier wird ein induktiver Zugang praktiziert. Die Lernenden untersuchen den exemplarischen Fall eines jungen Straftäters und entdecken dabei die verschiedenen Prinzipien der Bestrafung, ihre Implikationen und die Notwendigkeit, sie gegeneinander abzuwägen. Die Lehrperson kann die Konzepte in einem Kurzvortrag vor oder nach der Klassendiskussion einführen.

Diese Sequenz kann den Anstoß zu einem Transferprojekt geben, das ca. zwei weitere Sequenzen beanspruchen würde. Die Lernenden überprüfen, wie das Jugendstrafrecht in ihrem Land die drei Prinzipien des Strafzwecks, die sie in dieser Sequenz kennen gelernt haben, gegeneinander abwägt und welche Ermessensspielräume den Gerichten eingeräumt werden, um den Einzelfall zu würdigen.

Verlauf der Sequenz

Die Lernenden bilden Arbeitsgruppen mit je vier bis sechs Mitglieder. Die Lehrperson erklärt, dass zum Rechtsstaatsprinzip dem Grundsatz folgt, dass Richter und Richterinnen bei der Zumessung einer Strafe allein an das Gesetz gebunden sind. Urteil fällen. In dieser Sequenz werden die Lernenden untersuchen, wie solche Gesetze konzipiert sein müssen, wenn es um junge Straftäter und Straftäterinnen geht. Sie werden eine Fallgeschichte über ein Verbrechen hören. Alle Lernenden müssen sich dann vorstellen, dass sie Mitglieder des Parlaments wären, die im Gesetz die Strafe festlegen, die jugendliche Straftäter und –täterinnen erhalten sollen.
Anschließend trägt die Lehrperson die Grundversion der Fallgeschichte von Leo und Tom vor:

Leo und Tom

Leo und Tom waren beide 15 und besuchten die gleiche Schule. Sie kannten sich schon sehr lange, konnten sich aber nicht besonders leiden.
Eines Tages konnte Tom sein Mobiltelefon nicht mehr finden, und er beschuldigte Leo, es gestohlen zu haben. Leo beteuerte, er habe das Mobiltelefon nicht gestohlen, meinte aber, Tom sei neidisch auf ihn, weil er, Leo, viele Freunde habe und Tom nicht.

Nach der Schule kam es jenem Tag zu einer Schlägerei. Tom zückte ein Messer, obwohl Leo unbewaffnet war. Dabei verletzte er Leo so schwer im Gesicht, dass dieser eine bleibende Narbe zurückbehielt.

Die Gruppen diskutieren darüber, was eine faire Strafe für Tom wäre und versuchen, zu einer gemeinsamen Entscheidung zu kommen. Anschließend stellen die Gruppen ihre Vorschläge im Plenum vor und begründen sie.

Anschließend gibt die Lehrperson den Gruppen weitere Informationen, die als Impulse wirken, die bisher erarbeitete Lösung zu überdenken. Die Gruppen erhalten Zeit, jeden Impuls zu verarbeiten und ggf. ihren Vorschlag zur Bestrafung von Tom abzuändern. Die Impulse lauten wie folgt:

Ergänzende Informationen zum Fall Leo und Tom

Diskutiert, ob die folgenden Informationen eure Meinung, wie Tom bestraft werden sollte, verändert. Ändert euren Vorschlag ggf. ab und begründet eure Entscheidung (schriftlich).

  1. Tom wurde sehr streng erzogen. Sein Vater schlug ihn immer wieder.
  2. Tom war in seiner Klasse isoliert und niemand interessierte sich für seine Probleme.
  3. Leo hat Toms Mobiltelefon tatsächlich gestohlen und die Schlägerei angefangen, weil Tom den Diebstahl bei der Polizei angezeigt hatte.
  4. Leo war der Anführer einer Gang, die Tom seit Monaten mobbte. Es kam mehr als einmal vor, dass Tom von der Gang verprügelt wurde, und mit Stöcken, Ketten und einer Eisenstange geschlagen wurde. Tom litt deswegen unter Albträumen und hatte sogar Angst, in die Schule zu gehen.
  5. Der Vater hatte Tom drangsaliert, indem er ihm immer wieder vorwarf, er sei zu „weich“ und ihn bedrängte, sich gegen einen Tyrannen wie Leo zu wehren.
  6. Tom hat das Messer nur gezückt, um die Schläger abzuschrecken. Er hatte nie vor, das Messer zu benutzen. Rund zwanzig weitere Jugendliche standen um die beiden herum und feuerten sie an, sich zu prügeln.
  7. Eine Lehrperson hatte zwei Tage vor der Schlägerei gesehen, dass Tom ein Messer in die Schule mitbrachte, sprach Tom jedoch nicht darauf an.

Nachdem die Gruppen sich mit allen Informationen auseinandergesetzt haben, präsentieren ihre Sprecher bzw. Sprecherinnen in der nun folgenden Plenumsphase ihre Gesetzentwürfe. Es ist zu erwarten, dass die Lernenden bei ihren Versuchen, die unterschiedlichen Strafzwecke bzw. Gerechtigkeitsgrundsätze zu berücksichtigen, die Dilemmata und Zielkonflikte erkannt haben, die sie lösen müssen, z.B.:

  • Wie können wir deutlich machen, dass die Gesellschaft derartige Verhaltensweisen missbilligt?
  • Wie stellen wir sicher, dass die Schule ein gewaltfreier Raum ist?
  • Wie hart muss die Strafe für Tom ausfallen, damit sie Andere, z.B. Leos Gang, abschreckt, ebenfalls Messer einzusetzen?
  • Toms Verhaltensweise ist ein Hilferuf, und er konnte sich die Familie, in die er hineingeboren wurde, nicht aussuchen. Wie können wir Tom helfen, damit er sich glücklicher fühlt und auf Messerstechereien künftig verzichten kann?

Die Lehrperson kann die Diskussion zusammenfassen, indem sie diese Fragen mit den drei Prinzipien der Strafzwecke, der Vergeltung, Abschreckung und Besserung des Täters (Rehabilitation), verknüpft. Sie kann auf die Kinderrechtskonvention hinweisen, um zu begründen, weshalb dem Prinzip der Rehabilitation Vorrang eingeräumt werden sollte.

Falls Zeit zur Verfügung steht und die Lernenden entsprechend interessiert sind, kann diese Frage weiter vertieft werden. Falls sie uneins sind über den Rang der Rehabilitation im Jugendstrafrecht, sollten sie die Diskussion darüber weiterführen. Falls sie sich in dieser Frage einig sind, können sie untersuchen, wie die drei Prinzipien der Vergeltung, Abschreckung und Rehabilitation im Jugendstrafrecht ihres Landes berücksichtigt bzw. umgesetzt werden.