5.2 Kontroversitätsgebot

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„Was in Wissenschaft und Politik kontrovers ist, muss auch im Unterricht kontrovers erscheinen. Diese Forderung ist mit der vorgenannten aufs engste verknüpft, denn wenn unterschiedliche Standpunkte unter den Tisch fallen, Optionen unterschlagen werden, Alternativen unerörtert bleiben, ist der Weg zur Indoktrination beschritten. Zu fragen ist, ob der Lehrer nicht sogar eine Korrekturfunktion haben sollte, d. h. ob er nicht solche Standpunkte und Alternativen besonders herausarbeiten muss, die den Schülern (und anderen Teilnehmern politischer Bildungsveranstaltungen) von ihrer jeweiligen politischen und sozialen Herkunft her fremd sind. (…)“

In einer pluralistischen Gesellschaft sind Meinungsverschiedenheiten, unterschiedliche Werthaltungen und konkurrierende Interessen die Regel und nicht die Ausnahme. Die Entscheidungsfindung in der Demokratie und die Gewinnung neuer Erkenntnisse in den Wissenschaften sind ohne Streit nicht vorstellbar. Deshalb müssen Schülerinnen und Schüler lernen, Kontroversität auszuhalten und mit ihr umzugehen. Das Kontroversitätsgebot zielt auf die Stärkung einer produktiven Streitkultur, in der die Beteiligten die Sache vom Respekt vor der Person trennen.

5.2.1 Praktische Konsequenzen

In einer EDC/HRE-Sequenz sollen deshalb bei kontroversen Themen jeweils mindestens zwei Positionen zur Diskussion gestellt werden. Die Lehrperson muss darauf achten, dass jede Stimme gleiches Gewicht erhält (z.B. annährend gleiche Textlängen).

In Diskussionen begrüßt die Lehrperson kontroverse Positionen der Lernenden. Es erfordert Mut von den Schülerinnen und Schülern, mit ihrer Position zur Minderheit zu gehören oder sogar allein zu stehen. Mit Lob, ggf. auch mit Unterstützung versucht die Lehrperson, die Bereitschaft der Lernenden zur Zivilcourage zu fördern. Sie schreitet ein, wenn Schülerinnen oder Schüler einander persönlich angreifen oder auslachen und besteht auf einer respektvollen Streitkultur (lernen „durch“ Demokratie und Menschenrechte).

Falls alle Schülerinnen und Schüler der gleichen Meinung sind, besteht aus ihrer Sicht kein Anlass zum produktiven Streit. Ohne Gegenrede fehlt der Impuls, den eigenen Standpunkt zu überdenken und seine Argumente zu schärfen. Um Gegenargumente einzubringen, agiert die Lehrperson zeitweise als Diskussionspartner und erklärt den Schülerinnen und Schülern die Gründe für ihren Rollenwechsel. Das gleiche gilt, wenn eine Minderheit mit ihren Argumenten nicht durchdringen kann und Unterstützung benötigt, oder die Lehrperson die Lernenden auf eine von ihnen nicht wahrgenommene Perspektive aufmerksam machen möchte (vgl. den Text oben). Die Lehrperson muss in all diesen Fällen behutsam improvisieren und ihre Argumentationskraft jener der Lernenden anpassen, z.B. indem sie sich auf wenige Impulse beschränkt und den Lernenden möglichst hohe Anteile an der Redezeit überlässt (adaptive Lehrkompetenz).