Sequenz 4: Entscheidung: Wie regeln wir die Rechte der Mehrheit und Minderheit?

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Vertiefung: Wie sollen Teilhabechancen in der Demokratie verteilt werden?

Die folgende Übersicht unterstützt die Lehrperson bei der Planung und Durchführung der Sequenz.
Kompetenztraining benennt die Kompetenzen, welche die Lernenden in dieser Sequenz trainieren (Analyse-, Urteils-, Handlungs- und Methodenkompetenzen).
Das Erkenntnisziel beschreibt die inhaltlichkognitive Dimension des Lernertrags.
Aufgaben und Methoden dienen der Gestaltung des Lernprozesses.
Medien und Hilfsmittel bieten eine Checkliste für die technisch-organisatorische Vorbereitung.
Die Richtwerte zum Zeitbudget unterstützen das Zeitmanagement.
Kompetenztraining Verhandeln: Interessen artikulieren und einen Kompromiss suchen.
Erkenntnisziel

Es besteht ein dialektisches Spannungsverhältnis zwischen dem Demokratiegebot (Mehrheitsregel), dem Gebot der Fairness (Diskriminierungsverbot) und der Effizienz der Entscheidungsprozesse.

Entscheidungszwang ist ein spezifisches Merkmal der Politik.

Teilhabechancen in der Demokratie sind pfadabhängig, d.h. sie variieren erheblich je nachdem, wie politische Institutionen (z.B. Vereinssatzungen, Quoren, Wahlrecht) ausgestaltet sind. Politische Institutionen sind zu ihrer Legitimation auf eine hohe Zustimmungsrate angewiesen (Ordnungskonsens; hier insbesondere “loser’s consent”).

Aufgabe Die Lernenden agieren als Mitglieder einer Gemeinschaft mit unterschiedlichen, aber auch gemeinsamen Interessen. Sie verhandeln über Entscheidungsregeln, die der Mehrheitsregel und dem Minderheitschutz genügen.
Medien und Materialien Handout 7.2, 7.5; für die Ergebnis-Präsentation: Handout 7.5 (digital verfügbar mit Beamer oder als A2-Poster).
Methode

Diskussion (Verhandlung)

Klassengespräch (Reflexion)

Sitzordnung Hufeisen.
Zeitbudget 1. Vorbereitung (falls erforderlich). (10 Min)
2. Verhandlung Gruppenpräsentationen. (25 Min)
3. Reflexion. (10 Min)

Verlauf der Sequenz

Falls die dritte und vierte Sequenz in getrennten Stunden stattfinden, stellt die Lehrperson die Ergebnisse der dritten Sequenz – den Vergleich der Lösungsvorschläge – in analoger oder digitaler Form bereit.

1. Vorbereitung (falls erforderlich)

In dieser Sequenz agieren die Lernenden in der Rolle der Clubmitglieder und verhandeln über eine neue Satzung für ihren Sportclub, in dem die Rechte der Mehrheit (Fußballer) und Minderheit (Schachspieler) fair geregelt sind. In einer kurzen Gruppenphase bereiten sie sich auf die Verhandlung vor (vgl. dazu die Hinweise am Ende der 3. Sequenz).

2. Verhandlung und Entscheidung

Die Mehrheits- und Minderheitsgruppe sitzen sich im offenen Viereck gegenüber. Mitglieder der Mehrheitsgruppe nehmen ggf. auch an der dritten Tischreihe Platz, gemeinsam mit der Gesprächsleitung (Lehrperson und/oder zwei Vertreter bzw. Vertreterinnen der beiden Mitgliedergruppen).

Zu Beginn der Verhandlung nennt die Verhandlungsleitung das Ziel: Die Clubmitglieder einigen sich auf ein neues Satzungsmodell. Nach einer Verhandlung wird ein oder auch mehrere Modelle zur Abstimmung gestellt. Die Anwesenden einigen sich auf das erforderliche Quorum, z.B. eine Mehrheit von 50% oder mehr innerhalb jeder Teilgruppe.

Die Verhandlung durchläuft zwei Phasen: Zunächst trägt jede Seite ihre Interessen und Forderungen vor. Auch ein Plädoyer für ein neues Satzungsmodell ist möglich. Es ist zu erwarten, dass die Vorstellungen der Gruppen auseinandergehen.

In der zweiten Phase beginnt die Suche nach einem Kompromiss. Die Verhandlungsleitung kann nach gemeinsamen Interessen fragen, die noch nicht berücksichtigt wurden (z.B. beiden Gruppen ist in einem größeren Verein besser gedient). Die Einigung auf ein Satzungsmodell wird erleichtert durch die Versachlichung der Diskussion. Dazu dienen Kriterien, mit denen sich die Modelle prüfen lassen, z.B.:

  • Praktikabilität (“Alltagstauglichkeit”): Was funktioniert? Ein neues Regelwerk muss alltagstauglich sein; je einfacher und klarer die Regeln (z.B. zur Verteilung der Mittel oder zum Entscheidungsverfahren), desto besser.
  • Fairness (Gleichberechtigung): Ist es gelungen, einen wirksamen Minderheitenschutz herzustellen, ohne die Mehrheitsregel außer Kraft zu setzen?
  • Zumutbarkeit: Ist die vorgeschlagene Lösung für alle Beteiligten akzeptabel?

Die Clubmitglieder stimmen abschließend über ein oder mehrere Satzungsmodelle ab. Dabei gilt das Quorum für die Annahme einer neuen Satzung, auf das sich die Verhandlungsteilnehmer zu Beginn geeinigt haben.

3. Reflexion

  • Die Reflexion beginnt mit einem sog. Debriefing („Wie ging es Euch / Wie fühltet ihr euch in der Verhandlung?“). Diese Phase ermöglicht den Lernenden ihre Emotionen zu artikulieren, z.B. dass sie sich fair oder unfair behandelt fühlten.

Anschließend prüfen die Lernenden, inwieweit die Simulation einer politischen Verhandlung der Realität nahekommt. Folgende Erkenntnisse lassen sich gewinnen:

  • Es besteht ein dialektisches Spannungsverhältnis zwischen dem Demokratiegebot (Mehrheitsregel), dem Gebot der Fairness (Diskriminierungsverbot) und der Effizienz der Entscheidungsprozesse.
  • Entscheidungs- bzw. Einigungszwang ist ein spezifisches Merkmal der Politik.
  • Teilhabechancen in der Demokratie sind pfadabhängig, d.h. sie variieren erheblich je nachdem, wie politische Institutionen (z.B. Vereinssatzungen, Quoren, Wahlrecht) ausgestaltet sind. Politische Institutionen sind zu ihrer Legitimation auf eine hohe Zustimmungsrate angewiesen (Ordnungskonsens; hier insbesondere “loser’s consent”).

Die Lehrperson fasst die Ergebnisse der Reflexion zusammen und entscheidet, inwieweit sie diesen Prägnanz und Schärfe verleiht, indem sie sie in die Fachsprache transformiert.

Erweiterung und Vertiefung

Wie wird das Mehrheits-/Minderheits¬problem in unserer Verfassung ge¬löst?

Die Sequenz folgt dem Ansatz des handlungsorientierten exemplarischen Lernens. Der Lernertrag liegt nicht im – austauschbaren – Exempel, sondern im Bezug zum Allgemeinen, in diesem Falle zur Gesellschaft und Politik. Die Lernenden wechseln ihre Perspektive vom Modell-Fall zur gesellschaftlichen und politischen Realität. Ihre Arbeit zum „institutional design“ kann Impulse liefern für folgende Fragestellungen:

  • Welche Minderheiten in unserer Gesellschaft sind von Diskriminierung betroffen oder bedroht und wie werden sie geschützt?
  • Welche Vorkehrungen für den Schutz von Minderheiten enthält unsere Verfassung?
  • In welcher Weise wird das Recht der Mehrheit im Parlament oder bei Abstimmungen beschränkt?

Falls Zeit zur Verfügung steht, können die Lernenden zu diesen Fragestellungen im Projekt weiterarbeiten. Eine alternative Option besteht darin, dass die Lehrperson und die Lernenden in einem Pla-nungsgespräch prüfen, ob sich eine dieser Fragen in einer kommenden Einheit integrieren lässt. Oder aber die Lehrperson bzw. einzelne Lernende behandeln einzelne Fragestellungen im Lehrervortrag bzw. einer Präsentation, an den sich eine Diskussion anschließt. Bei jeder Form der Weiterarbeit und Vertiefung ist die Auswahl einer konkreten Fragestellung notwendig. Es folgt ein abschließender Überblick über die Themenoptionen:

1. Gesellschaftsanalyse

Mehrheiten und Minderheiten: Welche Menschen oder Gruppen bilden in unserer Gesellschaft Minderheiten oder empfinden sich in der Minderheitenposition? – Welche sehen sich als Verlierer, welche nicht?

2. Ausgestaltung der Verfassung (vgl. dazu Handout 7.2)

Quorumsregel: Welche Beispiele gibt es für die Anwendung des Quorumsprinzips?
Föderales Prinzip: Wie wird das föderale bzw. kantonale Prinzip in unserer Verfassung verwirklicht? Welchen Beitrag leistet es zum Schutz der Minderheit?
Grundrechte: Welche Grundrechte in unserer Verfassung dienen dem Schutz von Minderheiten? Welche Fallbeispiele gibt dazu es in der Gesetzgebung oder Rechtsprechung?
Parlament: Welche Rechte hat die Opposition, um Entscheidungen zu kontrollieren oder zu beeinflussen?

3. Demokratie in der Verfassungswirklichkeit

Mehrheitsregel:
Gab oder gibt es Fälle, in denen sich bei uns wiederholte oder gar „ewige“ Mehrheiten und Minderheiten herausgebildet haben?

Politische Kultur:
Gibt oder gab es bei uns Beispiele dafür, dass die Mehrheit bereit ist oder war, die Interessen der Minderheit zu berücksichtigen – oder auch nicht?
Wie oft und warum kommt es in der parlamentarischen Demokratie zum Regierungswechsel?
Wie gehen Sieger und Verlierer nach Abstimmungen oder Wahlen miteinander um?

Pfadabhängigkeit:
Gibt es Beispiele dafür, dass demokratische oder rechtliche Verfahrensregeln das Ergebnis von Entscheidungen, Wahlen oder Abstimmungen beeinflussen?