1.2 Demokratie

Living Democracy » Textbooks » 1.2 Demokratie

1.2.1 Grundprinzipien

In Abraham Lincolns berühmtem Zitat aus dem Jahr 1863 ist Demokratie „die Herrschaft des Volkes durch das Volk und für das Volk”. Diese drei Bestimmungen lässt sich wie folgt interpretieren:

„Herrschaft des Volkes”: die Macht geht vom Volk aus. Das Volk ist der Souverän, der die Macht direkt ausübt oder das Mandat zur Machtausübung auf Zeit erteilt („Herrschaft durch das Volk“). Wer Macht auf Zeit ausübt, kann vom Volk zur Rechenschaft gezogen werden. Denn demokratische Herrschaft legitimiert sich durch den Dienst am Gemeinwohl („Herrschaft für das Volk”).

Diese Definitionen können unterschiedlich aufgefasst und akzentuiert werden. Für politische Denker in der Tradition Rousseaus geht alle Staatsgewalt vom Volk aus. Es gibt keinen Raum für Parteien oder partikulare Interessen („Identität zwischen Regierten und Regierenden”). Das Volk entscheidet alles und ist an keine Gesetze gebunden; es ermittelt durch seine Abstimmung, was das Gemeinwohl ist. Wer jedoch eher der Tradition von John Locke verpflichtet ist, betonen dagen, dass in einer pluralistischen Gesellschaft oft verschiedene Interessen im Widerspruch zueinander stehen. Nach dem Verfahren, das ihre Verfassung vorschreibt, müssen die Beteiligten deshalb eine Entscheidung aushandeln, die dem Gemeinwohl dient.

Demokratie kann nicht als selbstverständlich vorausgesetzt werden – unabhängig davon, wie alt die demokratische Tradition eines Landes ist und wie sie entstanden ist. In jedem Land müssen die Demokratie und das grundlegende Verständnis der Menschenrechte ständig weiter entwickelt werden, um den Herausforderungen jeder neuen Generation gerecht zu werden. Und jede Generation braucht eine neue, ihr und der aktuellen politischen und geistesgeschichtlichen Situation angepasste Demokratie- und Menschenrechtsbildung.

1.2.2 Demokratie als politisches System

Moderne rechtsstaatliche Demokratien beruhen auf einem System von Institutionen, die sich wie folgt umreißen lassen:

  • Eine Verfassung, zumeist in schriftlicher Form, setzt den institutionellen Rahmen der Demokratie. Ein unabhängiges oberstes Gericht wacht in manchen Staaten über die Einhaltung der Verfassung.
  • Die Verfassung erhebt manche – nicht alle – Menschenrechte in den Rang von Bürgerrechten, die mit den Mitteln des Rechtsstaats geschützt sind. Jene Staaten, die z.B. die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte bzw. die Europäische Menschenrechtskonvention unterzeichnet haben, verpflichten sich, den Schutz aller Menschenrechte zu garantieren.
  • Gleichheitsgrundsatz und des Diskriminierungsverbot: Das Gesetz garantiert allen Bürgerinnen und Bürgern den gleichen Schutz und unterwirft sie den gleichen Pflichten.
  • Allgemeines und gleiches Wahlrecht: Volljährige Bürgerinnen und Bürger haben das Recht, in Parlaments¬wahlen für Parteien und/oder Kandidatinnen zu stimmen (repräsentative Demokratie). In einem Präsidialsystem wird das Staatsoberhaupt – der Präsident bzw. die Präsidentin – separat in einer direkten Wahl gewählt. Manche Systeme sehen zudem Referenden oder Volksabstimmungen vor, also das Recht der Bürgerinnen und Bürgern bestimmte Sachfragen selbst zu entscheiden oder sogar Gesetze zu beschließen (direkte Demokratie).
  • Menschenrechte als Teilhaberechte eröffnen den Bürgerinnen und Bürgern vielfältige Formen der Partizipation. Dazu gehören die Pressefreiheit und das Zensurverbot zum der Schutz der Medien, die Gedanken-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit sowie der Schutz von Minderheiten und der parlamentarischen Opposition.
  • Pluralismus und Konkurrenz der Interessen und politischen Ziele: Einzelne Bürger und Gruppierungen können Parteien oder Interessengruppen (Lobbys), Nichtregierungsorganisationen usw. bilden oder diesen beitreten, um ihre Interessen oder politischen Ziele zu verfolgen. Parteien, Verbände, NGOs konkurrieren oder verbünden sich miteinander. Ihre Durchsetzungschancen sind in der gesellschaftlichen Realität ungleich verteilt.
  • Das Parlament als Gesetzgeber: Die Kammer der gewählten Volksvertreterinnen übt die gesetzgebende Staatsgewalt aus (Legislative). Die vom Parlament beschlossenen Gesetze sind rechtlich bindend. Der Gehorsamsanspruch der Gesetze richtet sich an alle Bürger, da ist durch den Willen der Mehrheit der Wähler legitimiert ist. In einem parlamentarischen System können Wahlen neue Mehrheitsverhältnisse im Parlament schaffen, so dass geltende Gesetze abgeändert oder korrigiert werden können.
  • Herrschaft der Mehrheit: die Mehrheit entscheidet und die Minderheit muss die Entscheidung akzeptieren. Verfassungen setzen der Herrschaft der Mehrheit Grenzen, um die Rechte und Interessen von Minderheiten zu schützen. Das Quorum des Mehrheitsentscheids kann je nach Sachverhalt variieren. Verfassungsänderungen erfordern z.B. eine Mehrheit von zwei Dritteln oder mehr.
  • Gewaltenteilung: Der Staat übt das Gewaltmonopol aus, das einer „Entwaffnung der Bürger” gleichkommt7. Bliebe es dabei, wäre die Gefahr groß, dass die Staatsgewalt diktatorische Züge annimmt und die Freiheits- und Gleichheitsrecht der Bürger bedroht. Um dieser Gefahr zu begegnen, verzichtet keine Demokratie auf das Prinzip der Aufteilung der staatlichen Gewalt auf verschiedene Institutionen, die einander kontrollieren und beschränken sollen. Die klassische horizontale Dimension der Gewaltenteilung trennt die gesetzgebende (legislative) von der ausführenden (exekutiven) und rechtsprechenden (judikativen) Staatsgewalt. Zahlreiche Systeme kennen zusätzliche weitere Formen der Gewaltenteilung: die gesetzgebende Gewalt ist zwei Kammern anvertraut, oder zusätzlich zur horizontalen Dimension der Gewaltenteilung auf nationaler Ebene kommt in föderal verfassten Staaten eine vertikale Dimension hinzu, welche Bundesstaaten (USA), Ländern (Deutschland) oder Kantonen (Schweiz) Mitsprache- oder Vetorechte einräumt. Parlament und Regierung können auch gemeinsam Befugnisse der Gesetzgebung oder Entscheidung wahrnehmen und so gegenseitig kontrollieren (Gewaltenverschränkung).
  • Macht auf Zeit: Ein weiteres Mittel zur Machtbegrenzung besteht darin, ein Mandat lediglich für einen begrenzten Zeitraum zu erteilen. Jede Parlamentswahl entzieht den Mandatsträgern ihre Macht und verteilt sie neu. In den USA kann sich der Präsident nur einmal zur Wiederwahl stellen. Bereits in der Antike wurden in Rom jährlich zwei Konsuln gewählt, die das Amt nach einem Jahr niederlegen mussten. Würde das Prinzip der Macht auf Zeit und Wiederwahl auch auf Richter angewandt, wäre ihre Unabhängigkeit und Unparteilichkeit gefährdet. Aus diesem Grund amtieren Richter in Deutschland ohne Wiederwahl.

1.2.3 „Das Volk ist frei – der Einzelne ist es nicht“

Die Demokratie beruht auf den Prinzipien der Menschenrechte. Menschenrechte werden manchmal als ein System missverstanden, in dem der Einzelne vollständige Freiheit genießt. Dem ist jedoch nicht so.

Die Menschenrechte erkennen zwar die individuellen, unveräußerlichen Rechte und Freiheiten jedes Einzelnen an, jedoch sind diese Rechte keineswegs absolut. Sie finden ihre Schranke in den Rechte und Freiheiten anderer Personen. Grundsätzlich muss jeder und jede die Rechte Anderer anerkennen und darf das Gleiche für sich selbst erwarten. In der Praxis sind Konflikte zwischen den Rechten angelegt, so dass in einer Demokratie Verfahren geschaffen werden müssen, um den Genuss und die Beschränkung der Freiheitsrechte aller zu regeln. Einige Beispiele sollen dies verdeutlichen:

  • In einer EDC/HRE-Sequenz findet eine Diskussion statt. Damit alle Lernenden die Gelegenheit bekommen, ihre Meinung zu äußern, wird die Redezeit für alle beschränkt. Aus dem gleichen Grund wird in parlamentarischen Debatten oder in Talkshows die Redezeit limitiert.
  • Viele Verkehrsregeln schränken unsere Bewegungsfreiheit ein: die Geschwindig¬keitsbe-gren¬zungen in Ortschaften und Städten, das obligatorische Anhalten an roten Ampeln usw. Es ist offensichtlich, dass Verkehrsregeln Leben und Gesundheit aller Verkehrsteilnehmer schützen.

Eine Demokratie sichert dem Volk und den einzelnen Bürgerinnen und Bürgern mehr Freiheit als alle anderen Herrschaftsformen – vorausgesetzt, sie ist in einen institutionellen Rahmen eingebettet und entsprechend praktiziert. Eine gut funktionierende Demokratie muss sich auf einen starken Staat stützen können, der Rechtsstaatlichkeit gewährleisten und ein annehmbares Maß an Verteilungsgerechtigkeit erzielen kann. Ein schwacher Staat mit schwach ausgeprägter Rechtsstaatlichkeit ist nicht in der Lage, das Gewaltmonopol auf seinem Territorium durchzusetzen, um die Freiheits- und Gleichheitsrechte seiner Bürger zu schützen. Eine neuartige Grenzverletzung beispielweise, auf die ein Rechtsstaat antworten muss, ist die menschenfeindliche und rassistische Hetze in sozialen Netzwerken im Internet.

1.2.4 Stärken und Schwächen von Demokratien8

Es ist wenig hilfreich, die Herrschaftsform der Demokratie zu idealisieren. Demokratien in ihren verschiedenen Ausprägungen sind einige Stärken und Schwächen gemeinsam, die Lehrpersonen und Lernende kennen sollten, um die Potenziale der Demokratie nutzen und den Schwächen Rechnung tragen zu können.

a. Stärken demokratischer Herrschaft (Demokratie als Problemlöser)

  • Eine Demokratie bietet die Rahmenbedingungen und Mittel zur zivilisierten, gewaltfreien Konfliktlösungen; die Konfliktdynamik und der Wettbewerb der Ideen in pluralistischen steigert die Qualität der Problemlösung.
  • Demokratien sind pazifistisch – sie stiften Frieden in der Gesellschaft sowie in der internationalen Politik. Dem liegt Kants Idee vom ewigen Frieden zugrunde: In einer Demokratie ist Krieg nicht mehrheitsfähig.
  • Die Demokratie ist das einzige System, in dem ein Austausch der politischen Führung ohne Änderung des Regierungssystems möglich ist (Popper).
  • Demokratien sind lernfähige Gesellschaften, die mit menschlichen Irrtümern umgehen können. Was unter Gemeinwohl zu verstehen ist, wird ausgehandelt und nicht von einem autokratischen Regime verordnet.
  • Menschenrechte stärken Demokratien, indem sie einen normativen Bezugsrahmen für politische Prozesse bereitstellen, der sich am Prinzip der Menschenwürde orientiert. Durch die Ratifizierung von internationalen Menschenrechtsabkommen kann ein Staat sich zum Schutz der Freiheits, Gleichheits- und Teilhaberechte seiner Bürgerinnen und Bürger verpflichten.

b. Probleme und Schwächen von Demokratien (Demokratien als Problemerzeuger)

  • Parteien und politische Akteure tendieren dazu, langfristige Ziele dem Wahlerfolg zu opfern. Demokratien schaffen Anreize für eine kurzsichtige Politikgestaltung, beispielsweise auf Kosten der Umwelt oder künftiger Generationen (Politik des sich „Durchwurstelns”).
  • Regierungen können nur innerhalb der Grenzen eines Nationalstaates agieren. Die zunehmende globale Verflechtung wirtschaftlicher oder ökologischer Entwicklungen beschränkt die Reichweite und Einflusschancen demokratischer Entscheidungen, die in einem einzelnen Nationalstaat getroffen wurden.
  • Demokratie ist die Herrschaft des Volkes, durch das Volk und für das Volk (Abraham Lincoln). Wer aber gehört zum „Volk“ innerhalb der Grenzen eines Nationalstaats? Welche Rechte sollen den Menschen mit Migrationshintergrund, den Geflüchteten und allen anderen ohne Staatsbürgerschaft zugestanden werden? Die Idee der Selbstbestimmung eines Volkes schließt die Bürger ein, jedoch alle anderen aus, die einen Anteil von 20% an der Bevölkerung oder mehr aufweisen können.

1.2.5  Schlussfolgerungen

Demokratien sind auf Bürgerinnen und Bürger angewiesen, die dafür sorgen, dass die Stärken des demokratischen Systems zum Tragen kommen und die Schwächen unter Kontrolle gehalten werden. Demokratien sind zugleich anspruchsvolle Systeme, die den Bürgerinnen und Bürgern eine aktive Beteiligung und Unterstützung sowie eine Haltung der informierten und kritischen Loyalität abverlangen.

Etablierte und junge Demokratien sind gleichermaßen auf eine politische Kultur der Zivilgesellschaft angewiesen, die ihr Gedeihen und ihren Fortbestand sichert. Zu dieser politischen Kultur der Demokratie leistet EDC/HRE einen wichtigen, vielleicht sogar entscheidenden Beitrag.

8. Vgl. dazu Schmidt, Manfred G. (2010): Demokratietheorien. Eine Einführung. 5. Auflage, Wiesbaden: VS-Verlag. S. 453 ff.