Sequenz 4: Wie integrieren wir Minderheiten in einer pluralistischen Gesellschaft?

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Perspektivenwechsel; Abstraktion vom Fall

Die folgende Übersicht unterstützt die Lehrperson bei der Planung und Durchführung der Sequenz.
Kompetenztraining benennt die Kompetenzen, welche die Lernenden in dieser Sequenz trainieren (Analyse-, Urteils-, Handlungs- und Methodenkompetenzen).
Das Erkenntnisziel beschreibt die inhaltlichkognitive Dimension des Lernertrags.
Aufgaben und Methoden dienen der Gestaltung des Lernprozesses.
Medien und Hilfsmittel bieten eine Checkliste für die technisch-organisatorische Vorbereitung.
Die Richtwerte zum Zeitbudget unterstützen das Zeitmanagement.

Kompetenztraining

Zielsetzung (Erkenntnisziel)

Politische Urteilsbildung.

Pluralismus und Vielfalt als Herausforderung (Chance und Problem) der Demokratie.

Dialektik von Pluralismus und Konsens.

„Pluralismus als Lebens- und Gesellschaftsform“ (setzt die Bereitschaft zum Perspektivenwechsel voraus).

Aufgaben Die Lernenden

– abstrahieren vom konkreten Fall;
– erörtern, in welchen Fragen eine pluralistische Gesellschaft auf Konsens angewiesen ist;
– wechseln von der Außen- zur Innenperspektive.

Medien und Hilfsmittel

Handout 3.7

Wandtafel

Methoden

Diskussion

Lehrgespräch

Impulsvortrag

Information

Erkenntnisziel: Dialektik von Pluralismus und Konsens

Die Lernenden abstrahieren in dieser abschließenden Sequenz vom konkreten Fall (exemplarisches Lernen). Sie stoßen auf die Frage, welche Zumutungen, Kompromisse und Grenzen in einer pluralistischen Gesellschaft generell vertretbar bzw. notwendig sind, um das Konsensproblem zu lösen. Die Richter lieferten in ihren Urteilen eine Reihe von Kriterien:

  • Die öffentliche Schule muss von Rücksichtnahmen auf Minderheiten verschont werden, um ihre Integrationsfunktion erfüllen zu können.
  • Die Schule braucht Spielräume, um ihre Aufgabe erfüllen zu können. Inhaltliche Vorgaben machten die Richter nicht.
  • Das Interesse der Gemeinschaft ist höherrangig als die Einzelinteressen. Die in den Grundrechten geschützten Menschenrechte dürfen in ihrer Substanz jedoch nicht angetastet werden; sie definieren Grenzen, durch die Minderheiten geschützt werden.

Sutor (1984:107-110) hat diese Grundlinie der Pluralismus-Interpretation als Dialektik zwischen Pluralismus und Konsens auf den Begriff gebracht. Die Bürgerinnen und Bürger müssen sich auf ein verbindliches und gewaltfreies Verfahren des Konfliktaustrags einigen. Auf diesem Hintergrund kön-nen sie sich Dissens in der Sache erlauben, freilich verbunden mit der Bereitschaft zur Einigung, welche in der Regel durch einen Kompromiss erreicht wird. In einem demokratisch verfassten Rechtsstaat stiften politische Institutionen den Ordnungsrahmen, der verbindliche Entscheidungen ermöglicht. Auf eine inhaltliche Setzung eines sog. Gemeinwohls a priori kann dann verzichtet werden – darin besteht der Freiheitsgewinn.

Pluralismus als Lebens- und Gesellschaftsform

Die kritischen Reaktionen auf die Gerichtsurteile (vgl. die Recherchehinweise in Handout 3.7) münden in den Vorwurf, die Richter seien lebens- und wirklichkeitsfremd. Sie urteilten aus einer Systemperspektive, in der es vor allem um die Funktionsfähigkeit der Institution Schule gehe – eben der Außenperspektive. Nach dem Motto „Da kann ja jeder kommen“ weisen sie den Antrag der Eltern Alisas zurück. Die bloße Zumutung der Konfrontation mit etwas Fremdem im Schulalltag bewirkt noch keine Integration; entscheidend sind menschliche Beziehungen – wer sich als Person nicht angenommen fühlt, lässt sich auch nicht integrieren.

Das Bundesverwaltungsgericht geht in seinem Urteil darauf ein, dass ein nasser Burkini die Körperkonturen der Trägerin erkennen lasse und stuft dies als nachgeordnetes Problem ein, mit dem die Schülerin fertig werden müsse. An dieser Stelle sollten die Lernenden zur Innenperspektive wechseln: Schülerinnen und Schüler, insbesondere zu Beginn oder während der Pubertät, haben mitunter Probleme, sich vor anderen zu exponieren. Dazu genügt bereits die Aufforderung, vor der Klasse die Ergebnisse einer Gruppenarbeit vorzutragen. Wie muss sich dann ein junges Mädchen vorkommen, wenn ihr nasser Burkini „alles“ erkennen lässt? Aus dieser Perspektive erscheint zumindest zweifelhaft, ob eine junge Muslima mit ihrer Weigerung, am koedukativen Schwimmunterricht teilzunehmen, sich zugleich der Integration verweigert. Die Neue Osnabrücker Zeitung (11.11.2013) berichtet von einem Schulleiter, der dem Urteil zum Trotz anders vorgeht und muslimische Schülerinnen vom Schwimmunterricht freistellt.

Pluralismus, so lässt sich in Abstraktion von diesem Fall schlussfolgern, wirft zum einen die Frage auf, wer in welchen Verfahren über die Lösung von Konflikten entscheidet. Für die Integration von Minderheiten ist der von der Verfassung garantierte institutionelle Rahmen eine notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung. Hinzu kommt eine „weiche“ kulturelle Komponente, nämlich wie Menschen in einer pluralistischen Gesellschaft miteinander umgehen. Ob Integration gelingt, entscheidet sich in zwischenmenschlichen Beziehungen. Pluralismus ist nicht nur auf der Ebene politischer Herrschaft eine Herausforderung, sondern auch als Gesellschafts- bzw. Lebensform (vgl. die Einleitung zur Übernahme der Begriffe Himmelmanns).

Möglichkeiten für Transfer und Vertiefung

Die Lernenden setzen sich eingehend mit Gegnern und Kritikern des liberalen Pluralismus-Modells auseinander (vgl. dazu die Einleitung zu dieser Einheit).

Alternative: Sie gehen vertieft auf das Problem der ungleichen Verteilung von Chancen und Wohlstand ein, die das Konzept der Vielfalt (diversity) charakterisiert. Die hierfür beigezogenen Beispiele sollten einen engen Bezug zur Lebenserfahrung der Lernenden in der Schule aufweisen, damit diese als Experten urteilen können. Die UN-Behindertenrechts-Konvention (seit 2011 in der EU ratifiziert) hat eine breite und kontroverse Debatte über die Inklusion von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen im Regelunterricht ausgelöst.

Verlauf der Sequenz

1. Die Lernenden nehmen Stellung zu den Gerichtsurteilen (Positionsspiel)

Die Lehrperson erinnert an folgende Passage im Urteil des Verwaltungsgerichtshofs Hessen (siehe Handout 3.4): Die öffentliche Schule hat den Auftrag, „Schülerinnen und Schüler auf ein Dasein in der säkularen und pluralistischen Gesellschaft in Deutschland vorzubereiten, in der sie einer Vielzahl von Verhaltensweisen, Wertvorstellungen und Überzeugungen begegnen würden, die sie selbst für sich ablehnten.“

In einem Positionsspiel (vgl. Sequenz 3.1) nehmen die Lernenden zunächst zu diesem Ziel Stellung. Es ist zu erwarten, dass sie ihm mehrheitlich zustimmen. Die Lehrperson moderiert einen kurzen Austausch ihrer Entscheidungsgründe.

In einer zweiten Runde nehmen die Lernenden zu folgender Frage Stellung: Haben die Gerichte mit ihrem Urteil dazu beigetragen, die betroffene Schülerin Alisa „auf ein Dasein in der säkularen und pluralistischen Gesellschaft in Deutschland vorzubereiten“?

Über das Ziel mag man sich noch einig sein; über den Weg dorthin dürften die Vorstellungen stark auseinandergehen. Dies insbesondere dann, wenn die Lernenden zuvor in den Gruppen zu einer anderen Entscheidung gelangt sind als die Richter.

Der Austausch der Argumente sollte intensiver geführt werden als beim ersten Durchgang. Die Ler-nenden schalten eine Murmelphase vor und begründen dann ihre Positionen. Es ist zu erwarten, dass die Befürworter der Gerichtsentscheidung – Alisa muss am koedukativen Schwimmunterricht teilnehmen – eher die Außenperspektive vertreten, also die Funktionsfähigkeit der Institution Schule betonen. Wer das Urteil kritisiert, dürfte eher aus der Perspektive der Schülerin und der Minderheit, für die sie steht, argumentieren (Binnenperspektive).

2. Diskussion und Urteilsbildung

Die Lernenden diskutieren über die Leitfrage dieser Einheit: Wie sollte eine Schülerin muslimischen Glaubens auf angemessene Weise in die Schulgemeinschaft integriert werden? Ist es notwendig, wie die Richter meinen, ihre Teilnahme am koedukativen Schwimmunterricht als verbindlich zu erklären?

Die Lehrperson moderiert die Diskussion. Sie gibt den Argumenten der Lernenden eine Struktur, indem sie auf die beiden Perspektiven und die sie leitenden Wertvorstellungen aufmerksam macht. Sie kann einen Impuls geben, indem sie auf die kritischen Reaktionen zum Urteil hinweist oder darüber berichtet (vgl. die Einleitung bzw. Handout 3.7).

Ihren Abschluss findet die Diskussion mit einer Abstimmung. Es ist nicht notwendig, dass die Klasse einstimmig votiert, im Gegenteil. Wer für die Integration von Minderheiten in der pluralistischen Gesellschaft eher staatliche Institutionen in die Pflicht nehmen will, tendiert zu einer etatistischen Grundposition, wer darin hingegen eher eine Aufgabe der Gesellschaft bzw. der Bürger sieht, tendiert zu einer libertären Grundorientierung (vgl. Petrik 2013:197). Das an dieser Stelle zu thematisieren, würde den Rahmen der Einheit sprengen, wäre aber als Anschlussthema lohnend.

3. Abstraktion vom Fall (Transferaufgabe)

In der vorhergehenden Diskussion dürften die entscheidenden Argumente, wie die Integration von Minderheiten in der pluralistischen Gesellschaft erreicht werden kann, schon gefallen sein.

Die Lehrperson erklärt die exemplarische Funktion des Falls und wirft die Frage nach seiner Generalisierbarkeit auf: Lassen sich aus ihm und an ihm verallgemeinerbare bzw. transferierbare Erkenntnissen und Kompetenzen gewinnen?

Die Lernenden erhalten die Aufgabe, diese Frage schriftlich zu beantworten. Dabei sollen sie die bisherigen Diskussionen mental rekapitulieren und prüfen, welche Grundsätze sich daraus gewinnen lassen, die sich auf andere Situationen und Probleme übertragen ließen.

Die hier entstandenen Texte werden je nach Zeitbudget im Plenum oder in Kleingruppen diskutiert oder aber nur mit einem differenzierten Kommentar der Lehrperson versehen.