Handout 7.2: Konzepte des Minderheitenschutzes in der Demokratie

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Wie sollen die Rechte und Interessen von Mehrheits- und Minderheitengruppen angemessen berücksichtigt werden? Diese Frage beschreibt ein Grundproblem auf allen Ebenen des Lebens in der Gesellschaft, vom kleinen Verein bis zum Staat oder zu supranationalen Organisationen. Einerseits muss der Wille der Mehrheit in einer Demokratie respektiert werden. Andererseits müssen auch die Interessen der Minderheiten berücksichtigt werden. Wenn eine Gruppe sich für den ewigen Verlierer hält, können daraus ernsthafte Konflikte entstehen, die das Zusammenleben in der Gemeinschaft gefährden könnten.

In demokratischen Verfassungen finden sich unterschiedliche Lösungsansätze für dieses Problem. Sie grenzen den Entscheidungsspielraum der Mehrheit ein oder zwingen die Mehrheit durch ein Quorum, sich mit der Minderheit zu einigen.

1. Das föderale bzw. kantonale Modell

Regionale Untergliederungen eines Gesamtstaates erhalten den Status eines teilautonomen Bundesstaats (USA), Bundeslandes (Deutschland, Österreich) oder Kantons (Schweiz), die wie der Gesamtstaat demokratisch verfasst sind. Innerhalb dieser kleineren Einheiten entscheidet daher wieder die Mehrheit, z.B. über den Haushalt des Bundeslandes oder die Bildungspolitik des Kantons. Die föderalen und kantonalen Verfassungen unterscheiden sich deutlich in der Ausgestaltung der Teilautonomie ihrer Untergliederungen.

In Deutschland wirken die Länder über den Bundesrat an der Gesetzgebung des Bundes mit. Seine Befugnisse im Gesetzgebungsverfahren reichen vom Einspruch, der überstimmt werden kann, bis zum Veto (Art. 77). In den Ländern regieren in aller Regel Parteien mit, die im Bundestag vielleicht der Opposition angehören oder dort nicht einmal vertreten sind.

2. Die Quorumslösung (qualifizierte Mehrheit)

Die Mehrheit entscheidet – aber die Minderheit muss zustimmen. Wichtige Entscheidungen, z.B. Verfassungsänderungen, können an ein Quorum von 66% oder gar 75% gebunden werden. Die Minderheiten erhalten ein Vetorecht und können so Kompromisse erzwingen. Noch weiter geht das Konkordanzprinzip, das eine Allparteienregierung vorsieht, in der alle mitentscheiden dürfen.

Das deutsche Grundgesetz sichert der Minderheit im Parlament folgende Teilhabe- und Kontrollmöglichkeiten zu:

Ein Viertel der Mitglieder des Deutschen Bundestages kann die Einsetzung eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses verlangen (Art. 44 I GG).

Änderungen des Grundgesetzes können im Bundestag und Bundesrat nur mit Zweidrittelmehrheit beschlossen werden (Art. 79 II GG).

3. Menschenrechte als Minderheitenrechte

Demokratische Verfassungen verankern Menschenrechte als Bürger- bzw. Grundrechte. Das bedeutet, dass sie durch das nationale Recht geschützt sind und einklagbar werden. Solche Bürgerrechte schützen die einzelnen Mitglieder der Gesellschaft oder Minderheitengruppen, da die Mehrheit diese Rechte respektieren muss. Siehe z.B. die folgenden Artikel aus der europäischen Konvention zum Schutz der

Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) vom 4. November 1950:

Artikel 5, Recht auf Freiheit und Sicherheit

“Jede Person hat das Recht auf Freiheit und Sicherheit. (…)”

Artikel 14, Diskriminierungsverbot

“Der Genuss der in dieser Konvention anerkannten Rechte und Freiheiten ist ohne Diskriminierung insbesondere wegen des Geschlechts, der Rasse, der Hautfarbe, der Sprache, der Religion, der politischen oder sonstigen Anschauung, der nationalen oder sozialen Herkunft, der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, des Vermögens, der Geburt oder eines sonstigen Status zu gewährleisten.”

Die Artikel 5 und 14 der Europäischen Menschenrechtskonvention gründen auf den Grundprinzipien der Menschenrechte, nämlich Freiheit und Gleichheit.

(Quelle: Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten in der Fassung der Protokolle Nr. 11 und 14 samt Zusatzprotokoll und Protokolle Nr. 4, 6, 7, 12 und 13 (Fas-sung vom 1. Juni 2010)

https://www.echr.coe.int/Documents/Convention_DEU.pdf (Abruf am 09.12.2020).

4. Rechtsweg

Mehrheitsbeschlüsse, die auf Minderheitenschutz keine Rücksicht nehmen oder gegen Menschenrechte verstoßen, müssen korrigiert werden. Dazu bedarf es einer unparteiischen Instanz, die solche Beschlüsse prüft und ggf. außer Kraft setzen kann. Manche Vereins- oder Parteisatzungen sehen Schiedsgerichte vor. Das Bundesverfassungsgericht kontrolliert in Deutschland die Gesetzgebung und die Exekutive: „Wird jemand durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt, so steht ihm der Rechtsweg offen.“ (Art. 19 Abs. 4 GG).

Bürgerinnen und Bürger der Mitgliedsstaaten des Europarates können ihre Menschenrechte in letzter Instanz vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg einklagen (Art. 34 EMRK). Dieser Rechtsweg ist z.B. für ethnische Minderheiten bedeutsam, die nicht in den Genuss von Bürgerrechten kommen, da diese an die Staatsangehörigkeit des Gastlandes gekoppelt sind.

5. Repräsentation der Gruppen

Mit der Einrichtung einer Gerichtsbarkeit neben dem Gesetzgeber (Ziff. 4) ist der Weg der Gewaltenteilung beschritten. Auf Vereinsebene fungiert die Mitgliederversammlung als Gesetzgeber, ein Schiedsgericht entspricht den Gerichten. Der staatlichen Exekutive entspricht der Vereinsvorstand. Falls dieser aus mehreren Personen besteht, ist es möglich, auch Minderheitenvertreter daran zu beteiligen.