Kapitel 2 – Werte klären

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Einführung

In der modernen Gesellschaft haben wir die Freiheit und stehen zugleich vor der Notwendigkeit, uns für Werte zu entscheiden, die wir als wichtig und sinnvoll erachten. Indem wir solche Entscheidungen treffen, nehmen wir unsere Freiheit der Person sowie unsere Gedanken- und Glaubensfreiheit wahr, und wenn wir uns öffentlich zu unseren Ansichten bekennen, auch unsere Meinungsfreiheit. Diese Rechte sind Konkretisierungen eines Grundprinzips der Menschenrechte – die Freiheit der Person bzw. des Individuums. Die Lernszenarien in diesem Kapitel fokussieren auf dieses Freiheitsprinzip.

Wie das Bild zeigt, gehört zur personalen Freiheit auch die Entscheidungsfreiheit, die mit dem Zwang einhergeht, sich in bestimmten Situationen entscheiden zu müssen. Insofern können freie Menschen auch sehr einsam sein. Niemand darf oder sollte uns vorschreiben, woran wir glauben oder für welche Werte wir eintreten sollen. Und wir müssen zwischen alternativen Optionen wählen – denn wie wüssten wir sonst, was für uns im Leben wichtig ist? Für junge Menschen ist die Frage, für welche Werte sie sich entscheiden sollen – „Wofür stehe ich ein?“ – ein Schlüssel zur Klärung der Frage: „Wer bin ich?“ „Was ist meine Identität?“

Aus sozialer Perspektive ist eine Gesellschaft freier Individuen eine pluralistische Gesellschaft, deren Mitglieder unterschiedliche Werte und Überzeugungen vertreten. Pluralismus ist somit tendenziell konfliktträchtig. Dies wirft die Frage auf, worin das „einigende Band“ einer solchen Gesellschaft von Freien besteht, auf die unsere Zivilgesellschaft und Demokratie angewiesen ist. Dazu zählen nach unserer Überzeugung die Bereitschaft zum Kompromiss, das Prinzip der Gewaltlosigkeit und die Bereitschaft zur Integration von Minderheiten. Die Grundprinzipien der Demokratie und Menschenrechte sollten nicht zur Disposition stehen. Unabdingbar scheint uns eine demokratische Streitkultur zu sein, die auf dem Respekt vor anders Denkenden beruht und dem Konsens über die Verfahren der Willens- und Entscheidungsfindung (Ordnungskonsens). Gelingt es den Mitgliedern der Gesellschaft, sich auf einen solchen Ordnungs- und Wertekonsens zu einigen, können sie ihren Dissens in der Sache in aller Härte austragen, ohne dass die Person oder die Gesellschaft Schaden nimmt.

Das gilt entsprechend auch für die Mikrogesellschaft in einer Schulgemeinschaft, die im Sinne von EDC/HRE eine wichtige Modellerfahrung für junge Menschen schaffen kann und auch sollte: In einer demokratisch verfassten Gesellschaft kann sich kein Einzelner das Recht anmaßen, Werte für alle festzulegen. Vielmehr ist es so, dass die Mitglieder der Gesellschaft immer wieder einen Minimalkonsens über die Auslegung bestimmter Werte aushandeln müssen.

Daraus folgt, dass es der Lehrperson nicht zusteht, Werte im Sinne einer wie auch immer definierten political correctness, einer politischen Partei, einer Glaubensrichtung oder Ideologie vorzugeben (Überwältigungsverbot des Beutelsbacher Konsens). Den Lernenden steht auch und gerade in der Schule die Freiheit des Denkens und der Meinungsbildung zu, und sie benötigen diese Freiheit, um ihre eigenen Urteile zu bilden und Wahlentscheidungen zu treffen in ihrer Wertorientierung, und diese miteinander auszutauschen. Darüber hinaus gilt das Überwältigungsverbot auch für die Lernenden. Der Lehrperson kommt die Aufgabe zu, diese Lern- und Selbstfindungsprozesse zu unterstützen und zu moderieren, nicht aber zu steuern. Das gilt nicht nur für EDC/HRE, sondern die Schule insgesamt.

Die nachfolgenden Lernszenarien trainieren die Kompetenzen der Lernenden, sich ein Urteil zu bilden, zu argumentieren und zu verhandeln – Kompetenzen, auf die es bei den Aushandlungs- und Konsensfindungsprozessen in einer pluralistischen Gesellschaft ankommt. Sie erfahren das Grundprinzip der Reziprozität – ein Prinzip, das ich von Anderen einfordere, gilt auch für mich. In jedem Aufgabensetting ist die Form der Auseinandersetzung – friedlich und von gegenseitigem Respekt geprägt – genauso wichtig ist wie die Sache, für die oder gegen die die Lernenden argumentieren.