Handout 3.5: Der Integrationsauftrag des staatlichen Schulwesens

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Der Integrationsauftrag der Verfassung spielt in der Urteilsbegründung der Kasseler Richter eine zentrale Rolle. Im Grundgesetz selbst findet sich dieser Begriff nicht, wohl aber in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Am 29. April 2003 wies das Gericht die Verfassungsbeschwerde eines strenggläubigen christlichen Elternpaares ab, das ihr Kind nicht zur Grundschule schicken, sondern zu Hause unterrichten wollte. In Ihrer Begründung führten die Richter aus:

“Die Pflicht zum Besuch der staatlichen Grundschule dient dem legitimen Ziel der Durchsetzung des staatlichen Erziehungsauftrags und ist zur Erreichung dieses Ziels geeignet und erforderlich. Dieser Auftrag richtet sich nicht nur auf die Vermittlung von Wissen, sondern auch auf die Heranbildung verantwortlicher Staatsbürger, die gleichberechtigt und dem Ganzen gegenüber verantwortungsbewusst an den demokratischen Prozessen in einer pluralistischen Gesellschaft sollen teilhaben können. (…) Soziale Kompetenz im Umgang auch mit Andersdenkenden, gelebte Toleranz, Durchsetzungsvermögen und Selbstbehauptung einer von der Mehrheit abweichenden Überzeugung können effektiver [als im Heimunterricht] eingeübt werden, wenn Kontakte mit der Gesellschaft und den in ihr vertretenen unterschiedlichsten Auffassungen nicht nur gelegentlich stattfinden, sondern Teil einer mit dem regelmäßigen Schulbesuch verbundenen Alltagserfahrung sind.

Die mit der Pflicht zum Besuch der staatlichen Grundschule verbundenen Eingriffe in die genannten Grundrechte der Beschwerdeführer stehen auch in einem angemessenen Verhältnis zu dem Gewinn, den die Erfüllung dieser Pflicht für den staatlichen Erziehungsauftrag und die hinter ihm stehenden Gemeinwohlinteressen erwarten lassen. Die Allgemeinheit hat ein berechtigtes Interesse daran, der Entstehung von religiös oder weltanschaulich motivierten “Parallelgesellschaften” entgegenzuwirken und Minderheiten auf diesem Gebiet zu integrieren. Integration setzt dabei nicht nur voraus, dass die Mehrheit der Bevölkerung religiöse oder weltanschauliche Minderheiten nicht ausgrenzt, sie verlangt vielmehr auch, dass diese sich selbst nicht abgrenzen und sich einem Dialog mit Andersdenkenden und -gläubigen nicht verschließen. Für eine offene pluralistische Gesellschaft bedeutet der Dialog mit solchen Minderheiten eine Bereicherung. Dies im Sinne gelebter Toleranz einzuüben und zu praktizieren, ist wichtige Aufgabe schon der Grundschule. Das Vorhandensein eines breiten Spektrums von Überzeugungen in einer Klassengemeinschaft kann die Fähigkeit aller Schüler zu Toleranz und Dialog als einer Grundvoraussetzung demokratischer Willensbildungsprozesse nachhaltig fördern. (…)

Die mit dem Besuch der Schule (…) verbundene Konfrontation mit den Auffassungen und Wertvorstellungen einer zunehmend säkular geprägten pluralistischen Gesellschaft ist den Beschwerdeführern trotz des Widerspruchs zu ihren eigenen religiösen Überzeugungen zuzumuten.”

https://www.bundesverfassungsgericht.de (Abruf am 22.11.2020). Unter „Entscheidungen“ ist das Urteil vom 29.04.2003) mit Eingabe des Aktenzeichens 1 BvR 436/03 zu finden.

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte bestätigt die Rechtsprechung deutscher Gerichte

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte wies die Klage einer muslimischen Schülerin aus Basel ab (10.01.2017, Az. 29086/12. Sie müsse am Schwimmunterricht in der Schule teilnehmen.

https://www.ekr.admin.ch/pdf2/2017-001I.pdf (Abruf am 22.11.2020)