EINHEIT 3: Pluralismus und Vielfalt

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(Sekundarstufe II)

Wie integrieren wir Minderheiten in einer pluralistischen Gesellschaft?

Informationen für Lehrpersonen

Ein knapper Abriss

In dieser Einheit führen die Lernenden eine exemplarische Fallstudie durch, die an ihre Schulerfahrung anknüpft und sie mithin in die Rolle von Expertinnen und Experten versetzt. Es geht um einen realen Fall, nämlich um die Frage, ob muslimische Schülerinnen vom koedukativen Schwimmunterricht freigestellt werden sollen. Die Lernenden urteilen erst selbst, ehe sie erfahren, dass Gerichte in mehreren Instanzen einen entsprechenden Antrag von Eltern abgewiesen haben. Ausschlaggebend für diese Entscheidung war, dass die Schule ihren Integrationsauftrag in einer pluralistischen und säkularen Gesellschaft nur dann wahrnehmen könne, wenn auch Schülerinnen und Schüler aus Minderheitengruppen sich mit Werten und Verhaltensweisen konfrontieren ließen, die für sie fremd sind und vielleicht sogar ihren religiösen Vorstellungen zuwiderlaufen. Kritiker wenden ein, dass Integration von gelingenden menschlichen Beziehungen abhänge, insbesondere bei einem derart sensiblen Thema wie im vorliegenden Fall. Die Lernenden können durch dieses Lernangebot Orientierungen für ihr eigenes Verhalten in der pluralistischen Gesellschaft gewinnen.

Das Begriffspaar Pluralismus und Vielfalt

Die inhaltliche Schnittmenge der Konzepte Pluralismus und Vielfalt liegt in der zunehmenden Heterogenität moderner Gesellschaften und den Herausforderungen – Chancen und Problemen –, die damit einhergehen (vgl. Hilligen 1985:32). Unterschiedlich sind die Perspektiven, markieren die beiden Begriffe doch zwei Pole in der gesellschaftlichen Konfliktlinie zwischen Freiheit (Pluralismus) und Gleichheit (Vielfalt/diversity).

Pluralismus

Als analytische Kategorie bezeichnet der Pluralismusbegriff die Ausdifferenzierung der Gesellschaft im Modernisierungsprozess. Es entsteht eine Vielfalt von miteinander konkurrierenden Wertvorstellungen und von Interessen verschiedener politischer und gesellschaftlicher Akteure (Parteien, Lobbies etc.). Wettbewerb wird zum Strukturmerkmal der Gesellschaft, aber auch der Wirtschaft und der demokratischen Verfassungen.

Die Verbreitung der Menschenrechte ist eine der Triebkräfte der Pluralisierung moderner Gesellschaften; wissenschaftlichtechnischer Fortschritt, die Bildungsexpansion, Frauenemanzipation, Migrationsbewegungen und steigender Wohlstand kommen hinzu.

Als normative Kategorie bezeichnet der Pluralismusbegriff ein „liberales Projekt“. Kein Akteur verfügt über ein Deutungsmonopol, aus dem sich ein Führungsanspruch ableiten ließe. Was dem Interesse aller, zumindest aber der Mehrheit dient („Gemeinwohl“), wird zu einer Frage des Aushandelns. Pluralistische Demokratien legen die Verfahren bzw. Spielregeln fest, nach denen diese Aushandlungsprozesse verlaufen und zu verbindlichen Entscheidungen führen (vgl. Eisfeld 2011:447). Analog zur Gewaltenteilung und zum Parteienwettbewerb sorgt der Wettbewerb der Ideen, Werte und Interessen dafür, dass keine Seite ein Machtmonopol erringen kann, sondern dass die konkurrierenden Kräfte sich gegenseitig majorisieren.

Die Funktion politischer Institutionen ist es daher, gesellschaftliches Konfliktpotential, das durchaus zerstörerisch wirken kann, dauerhaft zu entschärfen – nicht, indem Konflikte unterdrückt oder autoritär gelöst werden, sondern durch die Bereitstellung eines Instrumentariums für einen gewaltfreien, ergebnisoffenen Konfliktlösungsprozess. Die Ermittlung des Gemeinwohls geschieht im Diskurs, a posteriori, als permanenter gesellschaftlicher Lernprozess.

Vielfalt

Aus gesellschaftlicher Perspektive bildet dieses Konzept den Gegenpol zum liberalen Konzept, das Pluralismus als Wettbewerb interpretiert. Zum einen fokussiert der Begriff u.a. auf die Konfliktlinien in der Gesellschaft, die auf sozialer Ungleichheit beruhen (vgl. Nohlen 2011:105) und fragt nach den Problemen und Konflikten, die aus der ungleichen Wohlstands- und Chancenverteilung hervorgehen. Der Wettbewerb bringt nicht nur Gewinner und Verlierer hervor; ungleich verteilt sind bereits die Chancen im Wettbewerb (vgl. dazu schon Offe 1969/2003).

Das Konzept der Vielfalt stellt somit auch den Ordnungs- bzw. Verfahrenskonsens in Frage, auf dem im liberalen Pluralismusmodell die Befriedung gesellschaftlicher Konflikte beruht. Insbesondere Minderheiten sind im Wettbewerb der Interessen benachteiligt. Auch dieses Problem können die Lernenden im Fallbeispiel untersuchen.

Das Konzept der Vielfalt bzw. diversity wird nicht nur in der Gesellschaftsanalyse verwendet, sondern in der Personal- und Organisationsentwicklung rezipiert (vgl. Nohlen 2011), die hier jedoch außer Betracht bleiben sollen.

Möglichkeiten des Anschluss-Lernens und der Vertiefung

Die Lernenden setzen sich mit konservativen bzw. rechtspopulistischen Gegnern des liberal-demokratischen Pluralismusmodells auseinander, z.B. mit der Forderung, dass sich Minderheiten einer sog. Leitkultur unterwerfen müssen oder mit der Forderung nach Einschränkung von Grundrechten für Zuwanderer oder Bürger aus Migrationsfamilien – von der rechtsextremen Ideologie einer ethnisch homogenen Volksgemeinschaft ganz zu schweigen.

Die „linke“ Pluralismus-Kritik im Sinne des Diversity-Konzepts wiegt dagegen schwerer: sie verweist auf die Chancenungleichheit, die ein Merkmal sozialer Ungleichheit ist (s.o.). Sich um die Verlierer und Minderheiten in der Gesellschaft zu kümmern ist nicht nur Aufgabe der Sozial- und Bildungspolitik, sondern auch der Bürgerinnen und Bürger (vgl. Einheit 2 (Verantwortung) und 7 (Gleichheitsgebot und Minderheitenschutz) in diesem Band).

Wahl der Fallstudie als Makromethode

Die vorliegende Einheit bedient sich der Fallstudie als Makromethode, welche der gesamten Einheit ihre Struktur gibt. Der ausgewählte Fall ist ein didaktisches Konstrukt. Er greift einen Entscheidungsprozess heraus und verfolgt diesen über einen bestimmten Zeitabschnitt.

Die Lernenden sollten dabei als Experten, nicht als Unwissende agieren (konstruktivistischer Lernbegriff). Der Fall ist daher so ausgewählt, dass die Lernenden sich seine Geschichte und Umstände entweder über ihre Vorkenntnisse oder anhand ihrer eigenen Erfahrungen mit dem Bereich Schule erschließen können.

Fallstudien folgen dem Prinzip des exemplarischen Lernens; es kommt also auf den Lernertrag an, der durch die Abstraktion vom konkreten Beispiel gewonnen werden kann. Die Fallgeschichten selbst sind als Arbeitswissen aktualisier- und austauschbar.

Dieser Einheit liegt die sog. Case-Problem-Method der Fallstudie zu Grunde (vgl. Kaiser/Brettschneider 2011:146). Die Lernenden werden dabei mit dem Konflikt zwischen der muslimischen Schülerin und ihren Eltern einerseits und der Schulleitung und Schulbehörde andererseits konfrontiert und erhalten die notwendigen Informationen, um den Konflikt und die Rechtslage zu analysieren. Die Kernaufgabe der Fallstudie liegt in der Urteilsbildung: in Gruppenarbeit prüfen die Lernenden Lösungsvarianten, treffen eine Entscheidung und begründen sie. Die Fallstudie ist also handlungsorientiert und die Lernenden trainieren ihre Kompetenzen der Problemlösung und Urteilsbildung (vgl. Kaiser/Kaminski (2011:111).

Der Wechsel der Perspektiven ist von entscheidender Bedeutung. Breit/Eichner (2010:91) sprechen von Außen- und Innenperspektive (Handelnde/System – Betroffene). Auch in der vorliegenden Fallstudie lässt sich das Problem nur durch einen derartigen Perspektivenwechsel verstehen und lösen. Ob eine Schülerin muslimischen Glaubens mit ihrer Weigerung, am koedukativen Schwimmunterricht teilzunehmen, zugleich ihre Bereitschaft zur Integration schlechthin verweigert, wäre wohl nur im Einzelfall, also im Dialog zu klären – und dies wäre hier fraglos auch der angemessene Lösungsweg. In Abwandlung der Begriffstrias Himmelmanns (2001) ließe sich von pluralistischer Demokratie als Herrschaftsform sprechen (Außenperspektive). Pluralismus, so geht in dieser Fallstudie aus dem Wechsel zur Binnenperspektive der Betroffenen hervor, entfaltet sich auch als Gesellschafts- bzw. Lebensform. Die auf dieser Ebene gefundenen Lösungsansätze dürften sich den Urteilen der Gerichte als überlegen erweisen.

Durchführung

Als Rahmen der Durchführung dieser Einheit sollen jeweils zwei Sequenzen zu einer 90-minütigen Doppellektion zusammengefasst werden. Die hier gewählte Variante der Fallstudie (Case Problem-Method, s.o.) setzt diese Taktung voraus. Falls die erste und zweite Sequenz auf zwei Einzelstunden aufgeteilt werden müssen, ist eine andere Variante vorzuziehen. Vgl. dazu die Hinweise für Lehrpersonen zur ersten Sequenz.

Kompetenzentwicklung: Die Verknüpfung mit den anderen Einheiten dieses Bandes

Inhalt der Matrix

Der Titel dieses Lehrerhandbuchs – Teilhabe an der Demokratie – fokussiert auf die Kompetenzen der aktiven Bürgerin und des aktiven Bürgers in der Demokratie. Die nachfolgende Matrix zeigt potenzielle Synergien zwischen den verschiedenen Sequenzen in diesem Band. Die grau unterlegte Zeile enthält die Kompetenzen, die in der vorliegenden Einheit 3 (Pluralismus und Vielfalt) trainiert werden. Die nachfolgenden Zeilen verweisen auf jene Sequenzen in diesem Band, in denen die Lernenden Kompetenzen trainieren, die mit denen in dieser Einheit zusammenhängen. Die stark eingerahmte Spalte hebt die politischen Entscheidungs- und Handlungskompetenzen hervor, die von besonderer Bedeutung sind für die Teilhabe an demokratischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozessen.

Funktion der Matrix

Die Lehrperson kann die Matrix als Planungsinstrument für Demokratie- und Menschenrechtsbildung in unterschiedlicher Weise einsetzen:

  • Die Matrix liefert Kriterien für die Auswahl einer Einheit unter dem Gesichtspunkt, welche Kompetenzen vorrangig trainiert werden sollen, insbesondere dann, wenn nur wenig Zeit zur Verfügung steht. Im Falle der Einheit 3 geht es primär um die Bestimmung des eigenen politischen Standpunkts und die Bereitschaft, die Vielfalt der politischen Positionen (Pluralismus) anzuerkennen.
  • Diese Synergien lassen sich umgekehrt auch zur Konstruktion von Transferschleifen verwenden. Die Lehrperson kombiniert also jene Einheiten, die ein intensives Training bestimmter Kompetenzen ermöglichen.
Einheiten Dimension der Kompetenzentwicklung Einstellungen und Werte
Analyse- und politische Urteilskompetenz Methoden und
Fertigkeiten

TEILHABE AN DER DEMOKRATIE

Politische Entscheidungs- und Handlungskompetenz

3 Pluralismus und Vielfalt Abwägen von
Alternativen,
Entscheidung.
Pluralismus und Ordnungskonsens.
Wertepluralismus.
Arbeiten im Team.
Konsensfindung durch Aushandeln.
Eigene Interessen und Überzeugungen
vertreten und sich mit denen anderer auseinandersetzen.
Bereitschaft zum Perspektivenwechsel (Innen- und Außenperspektive).
Gegenseitige
Anerkennung.
2 Verantwortung Abwägen von Handlungsmöglichkeiten Mit Dilemmata umgehen. Bereitschaft zum Perspektivenwechsel.
7 Gleichheit Problem der
Berücksichtigung von Minderheiteninteressen.
Balance zwischen Mehrheitswille und Minderheitenschutz finden.

Perspektivenwechsel.

Gegenseitige Anerkennung

8 Recht und Freiheit Freiheit und ihre institutionelle
Rahmung.
Verfahrensregeln anerkennen und
einhalten.
Anerkennung des Ordnungs- und Verfahrenskonsenses.

Einheit 3: Pluralismus und Vielfalt
Wie integrieren wir Minderheiten in einer pluralistischen Gesellschaft?

Thema Kompetenzen,
Erkenntnisziele
Aufgaben Medien und Hilfsmittel Methoden

Sequenz 1

Worum geht es im „Burkini-Fall“?
Konfrontation mit dem Problem

Bereitschaft zum Perspektivenwechsel (Handelnde – Betroffene).

Politisches Problem: Soll die Schule bzw. die Gesellschaft Rücksicht auf die
religiösen Gebote von Minderheiten nehmen?

Die Lernenden

  • analysieren den Streit um die Befreiung vom Schwimmunterricht (Konfrontation mit dem Fall);
  • durchdenken den
    Konflikt aus mehreren Perspektiven (z.B.
    Handelnde,
    Betroffene).
Handout 3.1
FallgeschichteMaterial für
Lehrpersonen 3.1: Fallstudie

Fallstudie (Makromethode)

Positionsspiel

Sequenz 2

Problemanalyse und politische Urteilsbildung (Was ist? – Was ist möglich? – Was soll geschehen?).
Eigenverantwortliches Arbeiten im Team

Problemanalyse und politische Urteilsbildung (Was ist? – Was ist möglich? – Was soll
geschehen?).Eigenverantwortliches Arbeiten im Team.
Die Lernenden

  • analysieren das politische Problem, das dem Fall zu Grunde liegt
    (Information);
  • untersuchen alternative Entscheidungsoptionen und prüfen die Rechtslage (Exploration);
  • diskutieren, welche Entscheidung ihre Gruppe befürwortet (Resolution);
  • bereiten sich auf die Disputation im Plenum vor.

Handout 3.1 – 3.3 (Fallgeschichte; Rechtslage; Arbeitsanweisung)

Flipchartbögen

Marker

Fallstudie (Makromethode)

Gruppenarbeit

Plenum:
Präsentationen und Diskussion

Sequenz 3

Wollen wir Schülerinnen und Schüler mit Rücksicht auf ihren Glauben vom Unterricht befreien?

Politische Urteilsbildung

Öffentliche Rede (Plädoyer).

Kriteriengebasierter Vergleich.

Die pluralistische Gesellschaft bietet ihren Mitgliedern Freiheiten, mutet ihnen jedoch auch die Anstrengung der gegenseitigen Anerkennung bzw.
Toleranz zu.

Die Lernenden

  • verteidigen und
    bewerten gegenseitig ihre Entscheidungen im Plenum (Disputation);
  • vergleichen ihre Entscheidung miteinander bzw. mit den vom Gericht gefällten Urteilen (Kollation).
Handout 3.3 –3.6: Urteile, Begründung, Diskussion.

Schülerreden

Diskussion

Lehrgespräch

Textanalyse und/oder

Lehrervortrag

Sequenz 4

Wie integrieren wir Minderheiten in einer
pluralistischen Gesellschaft?

Perspektivenwechsel;
Abstraktion vom Fall

Politische Urteilsbildung.
Pluralismus und Vielfalt als
Herausforderung (Chance und Problem) der Demokratie.Dialektik von Pluralismus und Konsens.Pluralismus als Lebens- und
Gesellschaftsform.
Die Schülerinnen

  • abstrahieren vom
    konkreten Fall;
  • erörtern, in welchen Fragen eine
  • pluralistische Gesellschaft auf Konsens angewiesen ist;
  • wechseln von der Außen- zur Innenperspektive.

Handout 3.7

Wandtafel

Diskussion

Lehrgespräch

Impulsvortrag