Handout 4.4: Der Streit über die “Tragik der Allmende”

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Garrett Hardin: „Die Tragik der Allmende“

„Stellt Euch eine Weide vor, die jedermann zugänglich ist. Man kann annehmen, dass jeder Hirte versuchen wird, so viel Vieh wie möglich auf die Weide zu stellen.“ Als „rationales Wesen“ wird jeder Hirte bestrebt sein, seinen Gewinn zu maximieren. Zwar wissen alle, dass die Allmende, eben jene Weide, die allen zugänglich ist, nur eine bestimmte Anzahl von Tieren ernähren kann.

Doch der einzelne Hirte rechnet so: Wenn ich ein weiteres Tier auf die Weide stelle, kommt der zusätzliche Ertrag mir zugute; die Gemeinschaft aller Hirten (mich eingeschlossen) trägt den entsprechenden Verzicht zu je einem Bruchteil.

Jedoch nicht nur ein einziger Hirte rechnet so und handelt entsprechend, sondern alle. Es bleibt auch nicht bei einem weiteren Tier pro Hirte, sondern es kommen noch weitere dazu. Ein einzelner Hirte könnte auch den Lauf in die Katastrophe gar nicht aufhalten, denn wenn er bei diesem Spiel nicht mitmacht, vergrößert er nur den Gewinn der anderen Hirten.

Hardins Schlussfolgerung lautet: „Darin liegt die Tragödie. Jedermann ist in ein System eingesperrt, das ihn zwingt, seine Herde unbegrenzt zu vergrößern – in einer Welt, die begrenzt ist. (…) Freiheit in der Nutzung der Gemeingüter führt zum Ruin aller.“

Garrett Hardin (1915–2003) war Mikrobiologe und Ökologe. 1968 veröffentlichte er in seinen Aufsatz „The Tragedy of the Commons“ *) der in der Umweltdiskussion bis heute viel beachtet und diskutiert wird.

*) Online zugänglich unter http://www.garretthardinsociety.org/articles/art_tragedy_of_the_commons.html. Wolfgang Ziefle (2000) hat die „Schafweide“-Geschichte ins Deutsche übersetzt (Auszüge online unter https://www.lpb-bw.de/publikationen/did_reihe/band22/ziefle.html; Abruf beider Links am 22.11.2021).

Elinor Ostrom: Wege zur Bewirtschaftung von Gemeingütern

Elinor Ostrom (2011) hat Hardins pessimistisches Szenario als undifferenziert und analytisch fehlerhaft zurückgewiesen. So verwechsle Hardin eine Allmende mit einer „open access resource“. Bei einer Allmende gebe es stets eine begrenzte Zahl von Nutzern, die gemeinsam regelten, wie z.B. eine Schafweide bewirtschaftet werde. Bei einer „open access resource“ fehle diese Kontrolle, etwa bei Fischfanggründen auf hoher See. Dort könne es in der Tat zur Übernutzung und Zerstörung natürlicher Ressourcen kommen.

Ostrom widerspricht auch der Annahme Hardins, Menschen seien ausschließlich darauf aus, ihren persönlichen Gewinn zu mehren. In ihren Fallstudien **) z.B. über Hochgebirgsweiden in Japan und der Schweiz, Wasserprojekte auf den Philippinen und in Kalifornien oder Hummerfischerei in Maine, konnte sie zeigen, dass die Nutzer vor Ort Regeln und Kontrollmechanismen entwickelten, um ihre knappen und empfindlichen Ressourcen schonend und nachhaltig zu bewirtschaften. Oftmals erwiesen sich diese Netzwerke gegenüber den unmittelbaren staatlichen Regeln oder dem Markt als überlegen. Staatliche Eingriffe können solche Systeme sogar stören ***).

Ostrom stimmt Hardin zu, dass natürliche Ressourcen in Gefahr sind, wenn sie unkontrolliert bewirtschaftet werden. Sie widerspricht jedoch nachdrücklich seinen Grundannahmen sowie den Schluss-folgerungen, die er nahelegt.

Die Politikwissenschaftlerin Elinor Ostrom (1933–2012) erforschte verschiedene Institutionen und Regelsysteme, die Menschen in aller Welt entwickelten, um knappe natürliche Ressourcen gemeinsam und nachhaltig zu bewirtschaften. 2009 wurde ihr der Nobelpreis für Wirtschaft verliehen.

**) Einen guten Zugang zu Ostroms Forschung bietet: Elinor Ostrom: Was mehr wird, wenn wir teilen. Vom gesellschaftlichen Wert der Gemeingüter. Übersetzt und herausgegeben von Silke Helfrich. München 2011.
***) Vgl. ebenda S. 63 (Fallgeschichte zur – letztlich gescheiterten – Rettung von Schildkröten auf den Philippinen).