2.2 Die kulturelle Dimension der Menschenrechte

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Demokratische Verfassungen bauen auf den Menschenrechten auf. Einige werden zu geschützten Bürger- oder Teilhaberechten und schaffen die Grundlage für demokratische Entscheidungsprozesse: Gedankenfreiheit und freie Meinungsäußerung, Medienfreiheit (d. h. Zensurverbot), Wahlrecht sowie der Grundsatz der Gleichbehandlung und der Nichtdiskriminierung, der für den Genuss jedes Menschenrechts gilt. Wenn ein Staat sich dazu entschließt, ein Menschenrechtsabkommen zu ratifizieren, so verpflichtet er sich, dass seine Gesetze und Rechtsordnung mit jenen internationalen Normen übereinstimmen.

Doch was geschieht, wenn ein Staat sein Versprechen, die Menschenrechte zu respektieren, nicht einhält? Die UNO und regionale Institutionen wie der Europarat haben Instrumente zum Schutz der Menschenrechte geschaffen, die vertraglich fixiert wurden und von den unterzeichnendnen Staaten ratifiziert werden müssen. Ein Beispiel ist die Europäische Menschenrechtskonvention, die sich auf Bürgerrechte und politische Teilhabe konzentriert. Die Mitgliedstaaten des Europarats können auch die Europäische Sozialcharta unterzeichnen, die wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte umfasst. Falls ein Staat, der die Europäische Menschenrechtskonvention ratifiziert hat, ein darin enthaltenes Recht verletzt hat, können die betroffenen Bürgerinnen und Bürger den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg als letzte Instanz anrufen. Zuvor müssen die Kläger den Gerichtsweg in ihren Heimatstaaten ausgeschöpft haben. Das bedeutet, dass zunächst der Rechtsstaat auf nationaler Ebene für den Schutz der Menschenrechte zuständig ist – soweit diese durch Verfassung und Gesetz geschützt sind. Zum formal-institutionellen Schutz der Menschenrechte kommt eine zweite, „weiche“ Dimension hinzu: eine Kultur der Partizipation und des Engagements der Bürgerinnen und Bürger.

Demokratie und Menschenrechte sind also in einen institutionellen Ordnungsrahmen eingebettet, der in der Verfassung und in der Rechtsordnung verankert ist. Entscheidend ist jedoch, dass jener Ordnungsrahmen von einer politischen Kultur getragen wird, mit der sich die große Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger identifiziert. Demokratie und Menschenrechte lassen Streit und Dissens in Sachfragen zu, vorausgesetzt, die Beteiligten erkennen die Spielregeln an, nach denen gestritten und entschieden wird. Zu diesem Ordnungskonsens gehört z.B. der Verzicht auf Gewalt in der Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner, und die Bereitschaft, ihn als Person zu respektieren20.

20. Anonyme Hasskampagnen („shitstorms“) in sozialen Netzwerken, mit denen z.B. Politiker und Journalisten überzogen werden, schaden der politischen Kultur des demokratischen Diskurses.