2 – Material 3: Perspektiven und Funktionen der Beurteilung71

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Es lassen sich drei Formen der Beurteilung unterscheiden, die unterschiedlichen Zwecken dienen:

Formative Beurteilung des Lernprozesses

Sie dient der Verbesserung, der Kontrolle und der Überprüfung des Lernprozesses im Hinblick auf die zu erreichenden Ziele.

Summative Beurteilung des Lernstands

Zu einem bestimmten Zeitpunkt wird eine abschließende, zusammenfassende Bewertung der Summe erworbener Kenntnisse und Kompetenzen vorgenommen. Die Hauptfunktion besteht darin, verschiedene Adressaten über den Leistungsstand der Lernenden zu informieren.

Prognostische Beurteilung der künftigen Lernentwicklung

Diese Beurteilungsform ist auf die Zukunft gerichtet. Zu verschiedenen Zeitpunkten geben Personen, die an der Schulentwicklung eines Lernenden beteiligt sind (Lernende, Lehrpersonen, Eltern, evtl. Schulpsychologen und Behörden), Empfehlungen für Fortsetzung des individuellen Entwicklungs- und Lernprozesses ab.

Beurteilung des Lernprozesses (formative Beurteilung)

Die Beurteilung des Lernprozesses (bzw. die formative Beurteilung) dient in erster Linie der Unterstützung der einzelnen Lernenden und trägt zur Verbesserung der Unterrichtsqualität bei. Anstatt die Symptome von Lernschwierigkeiten zu bekämpfen, werden deren kognitive oder emotionale Ursachen untersucht und bearbeitet. Fehler werden nicht korrigiert, sondern analysiert. Dies hilft der Lehrperson, die Vorstellungen und Denkweisen von Lernenden verstehen zu lernen und sie auf eine zielorientierte Weise zu unterstützen. Die Lernenden erfahren im Gespräch mit der Lehrperson von den Ergebnissen der formativen Beurteilung, die als Hilfsangebot, nicht als Leitlinie formuliert sind. Indem die Lernenden ihren Fehlerquellen auf den Grund gehen, fühlen sie sich ihren Problemen nicht mehr hilflos ausgeliefert. Vielmehr lernen sie, individuelle Strategien zur Lösung ihrer Probleme zu entwickeln.

Aus dieser Perspektive beruht der Erfolg von Lernprozessen nicht auf der Suche nach der besten Lernmethode, sondern vielmehr auf der ständigen Beobachtung durch Lehrperson und Lernende, um gemeinsam Fehlerquellen zu bestimmen und zu bearbeiten.

Möglichkeiten zur formativen Beurteilung des Lernprozesses:

  • Beobachtungen;
  • Gespräche mit den einzelnen Lernenden;
  • Tägliche Kurztests;

Lernkontrollen nach längeren Arbeitsphasen.

Tests sind ein Indikator für den Erfolg des Lehr- und Lernprozesses. Mit ihrer Hilfe können sowohl die Lehrpersonen als auch die Lernenden ihren Leistungsstand überprüfen. Bei Lücken und Unsicherheiten können Zusatzaufgaben und Unterstützung angeboten werden.

Möglichkeiten der Testung:

  • Beobachtung der Lernenden beim Lösen einer Aufgabe;
  • Analyse abgeschlossener Aufgaben;
  • Gespräche mit einzelnen Lernenden über ihre Lösungswege;
  • Befragung der Lernenden zu ihren Lösungsstrategien;
  • Kurztests.

Beobachtungen und Gespräche mit den Lernenden über ihre Vorgehensweise bei der Aufgabenlösung, Schwierigkeiten und Fehlerquellen ermöglichen es, für die Lernenden individuelle Ziele zu bestimmen. Diese Ziele können sich die Lernenden selbst stellen, gemeinsam mit der Lehrperson entwickeln oder von der Lehrperson bestimmt werden.

Die formative Beurteilung wirkt sich auf die Ziele und und Form des Unterrichts aus:

  • Lernen ist zielorientiert, nicht mehr ausschließlich inhaltsorientiert.
  • Individualisierte Lernangebote anstatt einheitlicher Aufgaben für alle Lernenden.

Beurteilung des Lernerfolgs (summative Beurteilung)

Bei der summativen Beurteilung des Lernerfolgs findet eine punktuelle, komprimierte Evaluation der Leistungen der Lernenden statt. Im Fokus stehen die Kenntnisse und Kompetenzen, welche die Lernenden zu einem bestimmten Zeitpunkt erworben haben, werden. Die summative Beurteilung dient als Feedback an die Lernenden, die Eltern und die Lehrpersonen, ermöglicht jedoch auch die zielorientierte Förderung der Lernenden.

Summative Beurteilungen werden oft nach längeren Lehr- und Lernsequenzen in Form von Beobachtung und Tests vorgenommen. Sie informieren die jeweiligen Adressaten, inwieweit die Lernenden bestimmte Ziele erreicht haben.

Instrumente der summativen Beurteilung des Lernerfolgs sind Lernkontrollen, die Kenntnisse abfragen oder spezifische Kompetenzen überprüfen (z. B. Demokratie-Quiz, Mathematik-Test, Wortschatz-Test, Sozialkunde-Test). Die summative Beurteilung des Lernerfolgs wird in allen Schulfächern eingesetzt. Die summative Beurteilung ist erforderlich zur Benotung der Lernenden, und sie bietet Lehrperson selektive Informationen über die Schülerleistungen. Die Dominanz der Notengebung als Medium der Rückmeldung über Schülerleistungen ist jedoch in mehrfacher Hinsicht problematisch : Noten werden als Mittel des Feedbacks eingesetzt. Im Zusammenhang mit der Notengebung bestehen mehrere ungelöste Probleme:

  • Verschiedene Lehrpersonen bewerten dieselbe Leistung unterschiedlich, und zwar in allen Fächern. Die Bewertung eines Aufsatzes variiert ebenso wie Schülerleistungen in Mathematik. Für die einzelnen Lernenden und ihre individuelle Schullaufbahn kann diese subjektive Komponente zur Schicksalsfrage werden, da es entscheidend darauf ankommen kann, welcher Klasse und welchen Lehrpersonen sie zugewiesen werden. welcher Klasse und mit welcher Lehrperson es seine Schulzeit verbringt. Abschließend ist festzustellen, dass die notenbasierte summative Bewertung dem Kriterium der Objektivität nicht genügt.
  • Lehrpersonen in allen Fächern haben die Tendenz, ein und dieselbe Schülerleistung zu verschiedenen Zeitpunkten unterschiedlich zu bewerten. Somit ist das Kriterium der Reliabilität ist nicht erfüllt.
  • Es ist oft nicht klar definiert, was mit einer Note erfasst werden soll (Fertigkeiten, Kompetenzen, Wissen, Einstellungen?). Bei der Benotung des Lernerfolgs beziehen Lehrpersonen oft unterschiedliche Aspekte in die Note ein, z.B. die tatsächlichen Leistungen des vergangenen Halbjahrs, die geschätzte Leistungsfähigkeit, den Lernfortschritt oder die Leistungsverschlechterung gegenüber dem Klassendurchschnitt sowie motivationsbezogene und disziplinäre Aspekte. Für die Lernenden ist es sehr schwierig herauszufinden, wofür genau die erzielte Note steht. Normalerweise kennen die Lernenden die Beurteilungsstrategien und -kriterien der Lehrperson nicht. Diese Strategien und Kriterien können mehrdimensional und der Ermessensspielraum kann groß sein. Wenn man die verschiedenen Funktionen der Notengebung in unserer Gesellschaft – etwa Qualifikation, Selektion und Zuteilung – berücksichtigt, so wird die Interpretation eine Note noch komplexer.
  • Fazit: Das Kriterium der Validität ist nicht erfüllt. Noten, die auf einer Beurteilung des Lernerfolgs beruhen, erfüllen weder die erwähnten gesellschaftlichen Anforderungen, noch tau-gen sie als Indikatoren des zu erwartenden Erfolgs in Schule, Universität oder im Beruf.
  • Die gängige Praxis der Benotung des Lernerfolgs geht mit erheblichen unerwünschte Nebenwirkungen einher: die Orientierung der Notengebung an der Normalverteilung innerhalb einer Klasse beschert den sog. „schwachen Schülern“ weitere Erfahrungen des Scheiterns. Die Normalverteilungskurve teilt die wenigen Spitzenränge für den guten und sehr guten Lernenden zu und verweist stets die gleichen schwächeren Lernenden ans untere Ende der Skala – und zwar selbst dann, wenn sie ihre schulischen Leistungen verbessern. Somit ist die Gefahr groß, dass diese Lernenden, wenn ihre Leistungen stets in Abhängigkeit vom Leistungsniveau innerhalb der Klasse bewertet werden, die Motivation und das Interesse verlieren, da sie keine Chance erkennen, ihren schlechten Noten zu entkommen.
  • Noten sind für bestimmte Situationen oder Phänomene ungeeignet: Im Fach Mathematik mag sich eine Lösung als richtig oder falsch beurteilen lassen, jedoch kann die Beurteilung der Lösungswege – gerade jener, die zu einem falschen Ergebnis geführt haben – unterschiedlich beurteilen. Noch schwieriger wird die notenbasierte Beurteilung in geisteswissenschaftlichen, sprachlichen oder musischen Fächern deutlich schwieriger. Dies ist auf fehlende oder unklare Bewertungskriterien und auf die Tatsache zurückzuführen, dass unterschiedliche Fächer unterschiedliche Kompetenzen oder Fertigkeiten erfordern. In EDC/HRE kann die Diskussion verschiedener Wege zur Lösung eines Problems ausgesprochen kreative und innovative Ideen hervorbringen, während in anderen Fächern nur eine einzige Antwort als richtig gelten mag. Damit verbindet sich die Gefahr, dass die Notengebung sowie das Bestreben alles zu benoten zu einer ungemessenen Vereinheitlichung der Beurteilungsmaßstäbe führen, bei der die kreative Suche nach neuen Lösungswegen ausgeschlossen ist.
  • Die Notenberechnung ist mathematisch nicht valide. Noten können nicht mehr leisten als ei-ne grobe Einordnung von Schülerleistungen innerhalb der Klasse. An dieser Tatsache können selbst äußerst genaue mathematische Methoden nichts ändern. Eine Durchschnittsno-te, bei der die Summe der Einzelnoten durch deren Anzahl dividiert wird, sagt wenig aus. Denn die Aussagekraft einer Note hängt auch vom Zeitpunkt der Benotung ab. Eine Schülerin, die zu Beginn eines Schulhalbjahres eher schlechte Noten hatte, sich dann aber im Ver-laufe der Zeit verbesserte, sollte anders beurteilt werden als eine Schülerin, deren Noten sich im Semesterverlauf sukzessive verschlechterten. Beide Schülerinnen mögen zwar die gleichen Durchschnittsnoten haben, unterscheiden sich aber prägnant in Bezug auf die er-brachte Leistung und den Lernfortschritt (prognostische Dimension).

Angesichts dieser Probleme soll und darf die summative Beurteilung des Lernerfolgs nicht der einzige Weg sein, um Aussagen zu den Leistungen der Lernenden in EDC/HRE zu machen. Erworbene Kompetenzen und Fertigkeiten sollen im Rahmen einer formativen Beurteilung ebenfalls berücksichtigt werden.

Prognostische Beurteilung

Prognostische Beurteilungen dienen dazu, die künftigen Leistungen in einem Fach, evtl. sogar die zukünftige Schullaufbahn eines Lernenden einzuschätzen und vorherzusagen. Bei dieser Beurteilungsform werden grundlegende Aspekte der Beurteilung sowohl des Lernprozesses als auch des Lernerfolgs mit dem Ziel kombiniert, die Perspektiven der Lernenden vorauszusagen. Die prognostische Beurteilung wirft Fragen wie z.B.: Wie können wir einzelne Lernende in ihrer Entwicklung fördern? Prognostische Beurteilungen sind zu verschiedenen Zeitpunkten in der schulischen Laufbahn von Bedeutung:

  • bei der Einschreibung bzw. Einschulung;
  • wenn ein Schuljahr wiederholt werden muss;
  • beim Wechsel in eine andere Klasse oder Schule;
  • beim Übertritt in einen anderen Schultypus (z. B. Sonderschule);
  • beim Übertritt in eine höhere Stufe oder Schule.

Es ist eine offene Frage, ob die prognostische Beurteilung wirklich als eine eigenständige Beurtei-lungsform zu bezeichnen oder eher als eine Funktion von Beurteilungen zu betrachten sei.