4. ”Die Welt entsteht im Kopf”: Konstruktivistisches Lernen in EDC/HRE30

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Wenn wir in einem Buch eine Geschichte lesen, gestalten wir so etwas wie einen Film im Kopf. Wir fügen Details und Szenen hinzu, welche die Autorin lediglich angedeutet oder auch weggelassen hat, und vielleicht stellen wir uns sogar die Gesichter der Protagonisten vor. Manche Romane regen unsere Phantasie so stark an, dass jede Verfilmung dagegen abfällt: Unser Film im Kopf ist viel besser, und er ist einmalig, da jeder Leser seinen eigenen Film produziert.

Das Beispiel illustriert unsere Fähigkeit, „die Welt im Kopf zu erschaffen”. Die Welt, in der wir leben, ist die Welt, wie wir sie wahrnehmen – sie besteht aus den Bildern, Erfahrungen, Konzepten und Urteilen, die wir von ihr produziert haben. Lernende suchen nach einem Sinn in allem, was sie hören oder lesen – sie wollen es verstehen. Sie legen Dinge, die keinen Sinn ergeben, bei Seite und suchen Informationslücken durch Recherche oder Vermutungen zu schließen31.

Erfahrenere Lehrpersonen werden feststellen, dass ihrem Lehrervortrag jede Schülerin und jeder Schüler eine eigene Botschaft empfängt und speichert. Einige Lernende können zwei Wochen später die Kernaussagen oder an bestimmte Details abrufen, manche sogar noch im Erwachsenenalter, weil der Vortrag so einen starken Eindruck hinterließ. Andere haben bereits am folgenden Morgen alles vergessen: Sie konnten nichts mit dem Vortrag anfangen, weil seine die Inhalte mit ihre Vorkenntnissen nicht zu verknüpfen war und ihre Interessen und Werte nicht berührte.

Aus konstruktivistischer Sicht ist das Lernen ein in hohem Maße individualisierter Vorgang:

  • Lernende konstruieren oder verändern Bedeutungsstrukturen. Sie verknüpfen neue Informationen mit den Kenntnissen und Begriffen, über sie bereits verfügen.
  • Lernende bringen stets ihre Biografie und persönlichen Erfahrungen in EDC/HRE mit..
  • Geschlecht, Alter, soziale und ethnische Herkunft, Glauben, und andere Merkmale ihrer Identität können die Perspektive der Lernenden beeinflussen.
  • Lernende weisen je eigene Stärken und Schwächen auf, die sich mit herkömmlichen Vorstellungen, etwa „gut“ oder „schlecht“ in Mathematik oder in den Fremdsprachen zu sein, kaum fassen lassen.
  • Es existiert absoluter Maßstab um zu bestimmen, was persönlich oder politisch relevant ist.
  • Es existiert kein absoluter Maßstab um zu bestimmen, was richtig oder falsch ist. Wichtig ist vielmehr, ob sich eine Lösung im Transfer als brauchbar erweist (Viabilität).
  • Die Lernenden, nicht die Lehrperson, sind für ihren Lernprozess verantwortlich (Perspektive lebenslangen Lernens);
  • Lernen besteht aus einem Wechsel von Instruktion und Konstruktion.

Im tradierten Unterricht agieren Lehrpersonen primär als Stoffvermittler, und Unterrichtsmethoden erschienen als eine Art Trickkiste, um Fakten und Kenntnisse möglichst geschickt in die Köpfe der Lernenden hineinzubekommen, um es anschließend abprüfen zu können. Ein derartiges Unterrichtsverständnis unterstellt, Lernprozesse seien durch die Lehrperson steuerbar. Demgegenüber weist das konstruktivistische Lernkonzept der Lehrperson die Rolle zu, den individuellen Lernprozessen der Kinder und Jugendlichen zu dienen, sie zu ermöglichen und zu unterstützen. Drei wichtige Merkmale dieses Rollenverständnisses werden in den folgenden Abschnitten skizziert.

30. Siehe dazu auch Teil 2, Einheit 4, Material 2 in diesem Band sowie auch Band IV dieser Reihe.
31. Siehe Band III dieser Reihe, S. 19 – 38, Einheit 1, Stereotype und Vorurteile. Was ist Identität? Wie sehe ich andere, und wie sehen sie mich?