8. Menschenrechtsbildung in der Schule42

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Menschenrechtsbildung fokussierte bislang auf das inhaltsbezogene Lehren und Lernen. Hier soll ein schulübergreifender Ansatz der Menschenrechtbildung vorgestellt werden, der die Schulkultur als ganzes, die Schulführung und -praxis in den Blick nimmt und sich von den Werten Menschenrechte leiten lässt.

Zwei Artikel der Kinderrechtskonvention (KRK) gehen auf die Bildung ein. Artikel 28 definiert die Bildung als ein Recht, und Artikel 29 fordert, „dass die Bildung des Kindes darauf gerichtet sein muss, (…) die Persönlichkeit, die Begabung und die geistigen und körperlichen Fähigkeiten des Kindes voll zur Entfaltung zu bringen”. Eine weitere Aufgabe der Schulen, so heißt es weiter in der KRK, besteht darin, dem Kind Achtung der Menschenrechte und der Grundfreiheiten zu vermitteln. Wir sind davon überzeugt, dass man Menschenrechte in Beziehungen mit anderen leben und praktizieren muss, um zu einem vertieften Verständnis von ihren zu gelangen und ihre Anerkennung zu fördern.

Die grundlegenden Werte der Würde, Achtung und Verantwortung sollten die treibende Kraft der Schule bilden. Das bedeutet nicht nur, die Lernenden mit den Werten und dem Wortlaut der Menschenrechte im Unterricht zu konfrontieren. Der Bezugsrahmen der Menschenrechte ist darauf angelegt, eine schülerzentrierte Schule zu schaffen, in der diese Werte dazu anleiten, wie die Schülerinnen und Schüler lernen, wie die Lehrpersonen mit ihnen und die Lernenden miteinander umgehen, wie sie ihren Platz in der Welt einnehmen werden – und sie vom Auftrag der Menschenrechte beseelt sind, sich für soziale Gerechtigkeit einzusetzen. Das ist zugegeben ein hoch gestecktes Ziel, doch es entspricht der überragenden Bedeutung der Menschenrechte in der Schule.

Die Lehrpersonen können die Menschenrechte zum Leben erwecken durch Auswahl ihrer Beispiele und Problemstellungen und indem sie eine breite Beteiligung an Diskussionen ermöglichen und die Lernenden zu kritischem Denken und zur Reflexion anregen, Projekte und spannende Exkursionen organisieren. Die Menschenrechte fordern die Lehrperson in mehrfacher Weise heraus: Zum einen muss sie die Menschenrechte inhaltlich durchdringen und verstehen. Zum anderen muss sie die Menschenrechte so darstellen, dass sie für die Lernenden bedeutsam werden und sie zum Handeln ermutigen und befähigen. Die vielleicht größte Herausforderung besteht darin, dass die Lehrperson die Menschenrechte für die Kinder und Jugendlichen konkretisieren und fassbar machen, und sie für die Idee der Menschenrechte gewinnen und begeistern muss.

Der Menschenrechtsansatz in der schulischen Bildung umfasst die folgenden Prinzipien und Ziele, die zugleich für die menschenrechtsorientierte Schulführung im allgemeinen maßgeblich sind. Sie entstammen einem Richtlinienkonzept der UNICEF43.

Der menschenrechtsorientierte Ansatz schulischer Bildung

  • erkennt die Rechte jedes Kindes an;
  • sieht das ganze Kind in einem größeren Kontext. Die Lehrpersonen kümmern sich darum, was mit dem Kind vor Schuleintritt geschieht (z.B. in gesundheitlicher Hinsicht) und was mit ihm geschieht, wenn es wieder zu Hause ist;
  • ist kinderzentriert, betont also das psychosoziale Wohlergehen des Kindes;
  • ist geschlechtersensibel und betont den Schutz der Mädchen. Die Lehrpersonen setzen sich für die Gleichberechtigung der Geschlechter ein, indem sie Geschlechterstereotypen eliminieren und Mädchen und Jungen gleichermaßen fördern;
  • fördert nachhaltige Lernerträge. Die Lernenden werden zu kritischem Denken angeregt und ermuntert, Fragen zu stellen, ihre Meinung zu äußern und Grundfertigkeiten zu erlernen;
  • bezieht die Lebenswirklichkeit der Kinder und Jugendlichen ein. Sie besitzen eine je einmalige Identität und bringen ihre früheren Erfahrungen im Schulsystem, in der Gemeinde und Familie mit, welche die Lehrperson berücksichtigen sollte, um die Lernerfolge und Entwicklung der Kinder und Jugendlichen zu fördern;
  • setzt sich für Inklusion, Achtung und die Chancengleichheit aller Kinder ein. Stereotypen, Exklusion und Diskriminierung werden nicht toleriert;
  • fördert die Lernenden in der Wahrnehmung ihrer Rechte und Pflichten der Lernenden im Schulleben sowie ihre Teilhabe am Gemeinwesen;
  • stärkt die professionelle Kompetenz, die Arbeitsmoral, das Engagement und den Status der Lehrpersonen, indem er eine angemessene Ausbildung, Anerkennung und Bezahlung gewährleistet;
  • ist familienorientiert. Die Schulkollegien bemühen sich, mit den Familien zu arbeiten und sie zu stärken, und die partnerschaftliche Kooperation von Lernenden, Eltern und Lehrpersonen zu unterstützen.

Es handelt sich um abstrakte Richtlinien, doch sie liefern einen Orientierungsrahmen für die Schulorganisation, den Lehrpersonen, Schulleitungen und Pädagogen an ihrer Schule anwenden können. Diese Prinzipien liefern auch Fragen zur Evaluation spezifischer Praxisfelder in der Schule. Verfolgen wir einen kinderzentrierten Ansatz, um Disziplin aufrecht zu erhalten? Stärkt er die Rechte und Pflichten der Lernenden? Bestehen genügend Möglichkeiten zur Partizipation der Lernenden an unserer Schule? Ist diese Partizipation relevant und geht sie von den Lernenden aus?

Diese Prinzipien können auch zum Engagement der ganzen Schule für die Werte Menschenrechte führen, die Dimensionen des Schullebens durchdringen: das Lernen, die Entwicklung, Verwaltung und Führung der Schule sowie die Politik in der Gemeinde.

Vielleicht können wir uns darauf einigen, dass die Menschenrechte in den Schulen weitaus mehr sind als Thema des Unterrichts – sie sind Lebensform in der Schule. Diese Lebensform entsteht nicht aufgrund des guten Willens einiger Lehrpersonen. Sie erfordert das Engagement der Schulleitung und einer kritischen Masse der Lehrpersonen und ist deshalb noch recht selten. Die ersten Ergebnisse sind jedoch zum Teil recht vielversprechend.

Die Initiative „Rights, Respect, Responsibility” (RRR – Rechte, Achtung, Verantwortung) der Bezirksverwaltung von Hampshire in Großbritannien ist ein ganzheitlicher Schulansatz, der auf der KRK beruht44. Die Grundprinzipien dieses Schulansatzes betonen die Notwendigkeit, die Rechte aller Kinder zu schützen und den Kindern zu helfen, ihre Pflichten zu verstehen und einen Bezugsrahmen des Lehrens und Lernens zu bieten. Diese Grundsätze dienen der Förderung demokratischer Teilhabe und der Achtung der Menschenrechte durch alle Mitglieder der Schulgemeinschaft. Hunderte Grundschulen sowie 50 weiterführende Schulen und Schulen für Sonderpädagogik beteiligen sich aktiv am RRR-Programm. Dessen wesentliche Merkmale sind:

  • Die KRK wird im Unterricht eingeführt und dient als Bezugsrahmen für das Leitbild der Schule sowie das Lehren und Lernen.
  • Kinder und Jugendliche werden als Bürgerinnen und Bürger behandelt.
  • Die Identität und das Selbstwertgefühl der Kinder und Jugendlichen werden gefördert, sodass sie sich selbst als Inhaber von Rechten betrachten, so wie es Erwachsene auch tun.
  • Eine ganze Reihe von Fächern wird um eine Menschenrechtsperspektive erweitert, so etwa Lesen und Schreiben, Mathematik, Naturwissenschaften und Geschichte, und in ihrer laufenden Arbeit demonstrieren die Lehrpersonen einen Sprachgebrauch, der sich an den Menschenrechten orientiert.
  • Die Lehrpersonen entwickeln demokratischere Lehr- und Lernansätze, die Teilhabe und Schülerrechte betonen.
  • Lernende und Lehrpersonen unterzeichnen eine Klassen-Charta über ihre Rechte und Pflichten.

Schulen berichten, dass das RRR-Programm den Bezugsrahmen für einen Großteil ihrer politischen Bildung schafft (beispielsweise Gesundheit an den Schulen, Beziehungen gestalten, Drogenaufklärung, emotionale Intelligenz, Schulparlamente). Mitglieder der Schulgemeinschaft schätzen es, sich in Bezug auf ihr Schulleitbild und die Schulordnung auf die internationalen Menschenrechtsstandards als übergeordnete Instanz berufen zu können.

Eine drei Jahre dauernde externe Evaluation wurde im Jahr 2008 abgeschlossen und zeigte signifikante Auswirkungen auf das Umfeld jener Schulen, die das RRR-Programm vollständig umgesetzt hatten. So zeigten sich positive Auswirkungen im Bewusstsein der Lernenden über ihre Rechte, ihre Achtung der Rechte anderer und dem Niveau ihrer Teilhabe und ihres Engagements in der Schule. Lehrpersonen berichteten, dass ihre Stressbelastung abgenommen und ihre Arbeit ihnen mehr Freude bereitet habe. Man kann festhalten, dass der an den Men¬schenrechten orientierte Ansatz sowohl die Menschenwürde der Mitglieder der Schulgemeinschaft gestärkt als auch das Potenzial der Schulen gesteigert hat, ihren Bildungsauftrag zu erfüllen und die Lernenden dafür zu gewinnen, ihre Bildung zu ihrer Sache zu machen.

42. Autorin: Tibbitts, F. (2009). Urspünglich erschienen in: Dies. (2005): What it means to have a ‘school-based approach to human rights education’ and a ‘human rights-based approach to schooling’. In: Amnesty International USA, Article 26 Newsletter, August.
43. Child Friendly Schools Manual, UNICEF, https://www.slideshare.net/kunalashar/unicef-child-friendly-schools-manual (Abruf am 14.03.2018).
44. Hampshire County Council (2009): Rights, Respect, Responsibility: A Whole School Approach. In : Human Rights Education in the School Systems of Europe, Central Asia and North America: A Compendium of Good Practice, Organization for Security and Co-operation in Europe; Warsaw, S. 72-74.